von KStefes » 21. April 2015 07:25
Ich hatte nicht damit gerechnet, wie viel Arbeit die Nachbereitung macht. Aber jetzt möchte ich mein Versprechen einlösen und Euch über meine Erfahrungen auf der Reise berichten.
Nach über einem Jahr Vorbereitung startete ich am 15.05.2014 an der Gedenkstätte Deutsche Teilung in Marienborn, dem ehemals größten und bedeutendsten innerdeutschen Grenzübergang.
Nach meiner Testfahrt im November kenne ich einige der Eigenheiten meiner MZ und so können mich kleinere Mucken oder kurzfristige Weigerungen nicht anzuspringen nicht aus der Ruhe bringen.
Ich verließ Marienborn auf der B1 Richtung Magdeburg. Auf der Fahrt nach Magdeburg fährt die ES ruhig und es gibt keine Schwierigkeiten. Einzig das Schalten vom ersten in den zweiten Gang gestaltet sich etwas hakelig.
Wie in vielen Gebieten der DDR sank die Einwohnerzahl auch in Magdeburg nach 1989 rapide und auch die schweren Überschwemmungen durch die Hochwasser 2002, 2006 und 2013 hinterließen ihre Spuren. So standen viele Gebäude leer und Magdeburg verbreitete in manchen Teilen einen morbiden Eindruck.
Im Berufsverkehr ging es dann am nächsten Morgen aus Magdeburg heraus. In Rhinow war ich mit OstkarrenFan verabredet. Wir wollten eine Weile gemeinsam fahren und bogen dazu von der geplanten Route ab. Am Gülper See legten wir eine kleine Pause ein. Hier war bereits zu DDR-Zeiten Naturschutzgebiet, was mich überraschte, da ich nicht damit gerechnet hätte, dass Naturschutz in der DDR ein Thema war.
Nicht weit von Rhinow, in Stölln, landete am 23. Oktober 1989 ein Langstreckenjet vom Typ IL-62 auf der nur 900 m langen Graspiste des Segelflugplatzes. Das Flugzeug war ein Geschenk der DDR-Fluggesellschaft Interflug an das Dorf Stölln. Klar, dass mich OstkarrenFan hierher führte, schließlich war er als Feuerwehrmann an den Landevorbereitungen beteiligt. Danach trennten sich unsere Wege wieder.
An der Ortseinfahrt von Neuruppin tauchte ein großer Mast auf – oben auf der Spitze: ein Trabbi! Fast wie ein Denkmal. Lange nach der Wende meinte der ehemalige Besitzer der Bechliner Mühle auf einer Feier, der Trabbi seines Sohnes könne nur noch dazu dienen, als Denkmal auf einen Mast gesetzt zu werden. Ende der 1990er Jahre stellte er ihn dann tatsächlich auf einen ausgedienten Strommast. Später hat ein Storch sein Nest auf dem Dach des Wagens gebaut. Seitdem akzeptiert auch die Gemeinde das „Denkmal“ und die Rufe nach Demontage sind verstummt.
Die anfangs das Landschaftsbild prägenden Felder verschwanden mehr und mehr und wurden durch dichte Waldgebiete abgelöst. Durch diese schimmerten ab und zu die ersten Ausläufer der Mecklenburger Seenplatte. So genoss ich die Fahrt und ließ meine Gedanken schweifen.
In Linow kam ich an einer Ansammlung alter DDR-Fahrzeuge vorbei und drehte noch mal um, um sie mir näher anzuschauen. Was anfänglich wie ein kleiner Schrottplatz aussah, auf dem die Fahrzeuge – wild übereinander gestapelt – Moos ansetzen, entpuppte sich als freie Werkstatt, in der die Altertümchen für Sammler und Liebhaber aufgearbeitet wurden. Mit großem Stolz zeigte mir der Besitzer der Werkstatt die restaurierten Fahrzeuge. Er selbst fuhr einen Trabant 1.1 – selbstverständlich unverkäuflich.
Für einen Feuerwehr-Barkas hatte sich auch schon ein Interessent angekündigt, angeblich ein amtierender Minister des Landes Brandenburg.
Der Rest der Tagesetappe führte entlang unzähliger Seen. Der Größte von ihnen, die Müritz, war an diesem Tag mein Ziel. Den wunderschönen Sonnenuntergang über dem See konnte ich allerdings nicht genießen, da ich innerhalb kürzester Zeit von Mücken übersät war.
Bei traumhaftem Wetter ging es Richtung Ostsee, vorbei an gelb leuchtenden Rapsfeldern, alten Windmühlen und neuen Windparks. In der Wismarer Altstadt gönnte ich mir einen Moment Pause und schaute mir die Zeugnisse einstigen Reichtums der Hanse an. Seit der Sanierung, die im Rahmen der Städtebauförderung ab 1991 durchgeführt wurde gehört der historische Stadtkern gemeinsam mit dem Stadtkern Stralsunds zum UNESCO-Weltkulturerbe und ist wirklich sehenswert.
Beim Abendessen fuhr direkt vor mir die „Molli“ vorbei. Die Mecklenburgische Bäderbahn pendelt seit 1886 zwischen Bad Doberan, Heiligendamm und Kühlungborn. Bereits in den 1970er Jahren wurde beschlossen, sie als Touristenatraktion und Denkmal zu erhalten.
Trotz meiner Routenplanung, die möglichst nah am Meer entlang laufen sollte, bekam ich das Wasser bisher nur sehr selten zu Gesicht. Selbst bei meinem Zwischenstopp in Bastorf am Leuchtturm sah ich das Meer nur aus der Ferne. Daher nutze ich die Gelegenheit am nächsten Morgen – noch vor meinem ersten Gesprächstermin in Warnemünde – und ging erst einmal an den Strand vom berühmten Leuchtturm, dem Wahrzeichen Warnemündes, entlang der für die Ostsee typischen Strandkörbe.
Als ich Warnemünde verließ, begann es zu regnen. Egal, ich machte mich trotzdem auf den Weg nach Rostock. Der Regen wurde immer stärker und hörte bis zu meinem Etappenziel Prora, auf der Insel Rügen, nicht mehr auf.
Die berühmten Kreidefelsen wurden mir als ein absolutes Muss empfohlen. Vom Parkplatz zum Nationalpark-Zentrum Königsstuhl war es noch ein 30-minütiger Fußmarsch. Ich war drauf und dran, diese Sehenswürdigkeit auszulassen, aber allein der Weg zu den Felsen war die Fahrt dorthin wert. In der leicht feuchten Morgenluft blitzte die Sonne durch die Bäume und ließ den Wald märchenhaft erscheinen. Am Zentrum angekommen ging aber ich nicht hinein, sondern nahm die 412 Stufen hinunter zum Strand. Der Blick auf die sich über mir blendend weiss erhebenden Kreidefelsen entschädigte für die Strapazen des anstrengenden Ab- und Aufstiegs.
Die Insel Rügen verließ ich dann wieder bei Glewitz mit der Fähre, was mich automatisch über Nebenstraßen führte. So spürte ich erstmals, dass die Kopfsteinpflaster-Alleen doch noch nicht völlig verschwunden waren. Den ganzen Tag begleitete mich der Sonnenschein auf der Reise durch einen der schönsten Landstriche Deutschlands bis zur Insel Usedom.
Am Vorabend hatte ich nach dem Passieren der Peenebrücke Wolgast noch die Orte der sogenannten Bernsteinbäder, die Ortschaften an der dünnsten Stelle der zwischen Deutschland und Polen geteilten Insel besucht. Man diesem Morgen spazierte ich bei strahlend blauem Himmel über die Strandpromenade von Bansin – die längste Europas. Die Strandpromenade führt bis ins polnische Swinemünde. Erst danach verließ ich die Insel Usedom – über die Zecheriner Brücke.
Nirgendwo war die Landschaft so von weitläufigen Windparks geprägt wie in der Uckermark. Die Auswirkungen der Energiewende fielen mir hier besonders ins Auge – zumeist zum Ärger der Bewohner. Sie brachten ihren Protest durch Plakate an den Straßen zum Ausdruck. Ich fühlte mich stark erinnert an die Proteste gegen den Braunkohleabbau in meiner Heimat, dem Rheinland.
Je weiter ich mich von den Touristengebieten entfernte, desto mehr verlassene und verfallene Gebäude sah ich. Arbeits- und Perspektivlosigkeit nach der Wendezeit zwangen viele ihre Zelte abzubrechen und in strukturstärkere Gebiete Deutschlands umzuziehen.
Es gab aber auch Menschen, die den umgekehrten Weg gegangen sind. So traf ich einen „Wessi“ aus Hessen, der seit 2006 in Templin lebt. Wir fuhren den Rest dieser Etappe gemeinsam bis Jochimsthal/Werbellinsee. Dort hatte ich einen Termin mit dem Geschäftsführer der Europäische Jugend- und Erholungs-Begegnungsstätte (EJB) Werbellinsee. Zu DDR-Zeiten war hier die sogenannte Pionierrepublik Wilhelm Pieck ansässig, das größte Ferienlager für die Kinderorganisation der Thälmann-Pioniere. Nach vielen Widrigkeiten hat es die Einrichtung heute geschafft, sich zu positionieren, um für Kinder und Jugendliche erhalten zu bleiben. Ich nutzte die Gelegenheit und spazierte am Werbelinsee entlang.
Ein wesentlicher Unterschiede zwischen den Städten in den alten und neuen Bundesländern war direkt nach dem Ortsschild augenfällig. So kam man im Osten der Republik zuerst an einem Einkaufszentrum und dann an einem Plattenbaugebiet vorbei, an deren Ausmaßen man bereits die Größe der Stadt erahnen konnte. So groß wie erwartet war aber der Unterschied bisher nicht. In Frankfurt an der Oder begann das Bild sich langsam zu ändern. Die Ankunft an meinem Etappenziel Eisenhüttenstadt war dann ein regelrechter Kulturschock. Dieser Stadt sieht man an, dass sie als reine Planstadt ab 1950 entstanden ist und den Prototyp einer sozialistischen Stadt bilden sollte. Breite vierspurige Straßen, quadratisch angeordnet und von Plattenbauten gesäumt. Nachdem die Einwohnerzahl von über 50.000 zur Wende bis heute auf fast die Hälfte gesunken ist sind viele Plattenbauten „zurückgebaut“ worden. Trotzdem war der künstliche Charakter und die typisch sozialistische Stadtplanung nicht zu verkennen.
Der weitere Weg in die Lausitz führte erst eine zeitlang am Grenzfluss zu Polen und dann eine ganze Weile am Tagebau Jänschwalde entlang. Im Gegensatz zum Tagebau Garzweiler, den ich aus meiner Heimat kenne, gibt es hier keine übergroßen Schaufelradbagger, sondern die sogenannten Abraumförderbrücken. Leider habe ich eine solche nicht zu Gesicht bekommen. Vom Aussichtspunkt Cottbus-Nord sah ich nur die tiefen Narben im Gelände, die so ein Tagebau hinterlässt.
Auf der Suche nach einer Unterkunft an meinem Etappenziel Burg/Spreewald landete ich in der Touristeninformation „Haus des Gastes.“ Eine sehr hilfsbereite Dame telefonierte die in mein Budget passenden Unterkünfte ab und fand ein uriges Gasthaus. In der Nacht gab es schwere Unwetter, die in weiten Teilen Deutschlands massive Schäden anrichteten. Auch für den nächsten Tag waren weitere Gewitter angesagt. Ein Kanuausflug im Spreewald ließ der Dauerregen nicht zu. Zum Glück hatte mein Ansprechpartner schon früher für mich Zeit und ich fuhr direkt nach Calau in das Museum „Die mobile Welt des Ostens.“
Über zwei Stunden unterhielten wir uns. Er zeigte mir Stolz die Exponate und erklärte mir alles Wissenswerte. Einige Ausstellungsstücke, zum Beispiel ein SIS 110W Repräsentationscabriolet oder Ulbrichts Krankenwagen, sind nur hier zu sehen.
Der Regen hatte mittlerweile aufgehört und ich setzte meinen Weg nach Hoyerswerda und dann weiter nach Görlitz fort.
Mit Görlitz hatte ich dann den östlichsten Punkt Deutschlands und somit auch meiner Reise erreicht.
Es gibt in Deutschland nur sehr wenige Städte, die eine solche Dichte von Baudenkmälern aufweisen. Von dem Bau- und Sanierungsboom nach der Wiedervereinigung konnte besonders die Görlitzer Innenstadt profitieren. Nachher erfuhr ich noch, dass großzügige Spenden eines anonymen Gönners halfen, die historische Görlitzer Bausubstanz zu erhalten. In Zittau sah das Ganze dann wieder komplett anders aus. Hier gibt es nach wie vor noch viel zu tun. Weite Teile der Stadt zeigten sich immer noch so, wie ich den Osten Deutschlands aus der Zeit kurz nach der Wende in Erinnerung hatte. Viele Gebäude standen leer und verfielen langsam.
Einen motorradfreien Tag legte ich in Bautzen ein. Es stand „schwere Kost“ auf meinem Programm: Ein Termin in der Gedenkstätte Bautzen. Diese ist im Gebäude der ehemaligen Sonderhaftanstalt der Staatssicherheit – der einzigen, die es in der Form gab. Nach einer kurzen Führung drehte ich zum Fotografieren allein meine Runden. Eine bedrückende Stimmung überkam mich. Irgendwann realisierte ich, dass ich mich immer wieder unbewusst umdrehte.
Danach traf ich noch einen der Vertreter, die 1989 für das Neue Forum mit den Häftlingen sprach und im Herbst 1989 Demonstrationen in Bautzen organisierte. Danach – gegen Abend – ein Paar, das über die Prager Botschaft „rübergemacht“ hat.
Am 30. September 1989 hielt der damalige Außenminister der Bundesrepublik Hans Dietrich Genscher seine berühmte unvollendete Rede vom Balkon der Botschaft: "Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…". Der Rest ging im Jubel von mehreren Tausend Flüchtlingen unter – unter ihnen meine Gesprächspartner.
Desillusioniert durch den ständigen Mangel, insbesondere beim Bau ihres eigenen Hauses hatte das Ehepaar einen Ausreiseantrag gestellt. Als sie dann von den Botschaftsflüchtlingen, hörten fassten sie den Entschluss, es auf diesem Weg zu versuchen. 1994 zogen sie zurück in die Gegend um Bautzen. Das private Umfeld, Familie, Freunde und Bekannte haben dann doch gefehlt und das habe den Ausschlag gegeben wieder zurück zu gehen.
Meine nächste Station war Dresden, der Ort an dem meine Pentacon Six hergestellt wurde. Daher war ich sehr gespannt, was aus dieser Firma nach der Wende geworden ist. Der Marketing-Manager bei Pentacon erzählte mir etwas über den Werdegang der Firma seit 1989. Zu DDR-Zeiten war Pentacon einer der größten Arbeitgeber in Dresden mit bis zu 8.000 Mitarbeitern. Durch die Veränderung im Fotomarkt hat Pentacon sich im Bereich Kamerabau auf die Herstellung optischer Prüfgeräte spezialisiert. Zudem führten Innovationen im Bereich Kunststoff Spritzguss zu einer zukunftsträchtigen Positionierung in der Branche. Leider durfte ich bei der Führung durch das Werk nicht fotografieren.
Am Horizont sah ich schon die Blitze und hörte den Donner des herannahenden Gewitters. Das zweite Mal auf dieser Reise wurde ich nass und das sollte sich auch in den nächsten Tagen nicht ändern.
In Zschopau, dem Geburtsort meiner ES, besuchte ich die Motorradaustellung im Schloss Wildeck. Fast alle Exponate stammen von Jörgen Skafte Rasmussen, dem Firmengründer des DKW Konzerns, Vorgänger der MZ Werke hier in Zschopau. Seine Nachfahren haben der Stadt Rasmussens Motorradsammlung geschenkt. Dadurch ist eine wunderbar erhaltene Sammlung in Zschopau gebauter Motorräder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden.
Mein eigentliches Ziel, die MZ-Werke, stehen seit 2013 still. Einzig das Logo und die, auf das Dach am Eingang des Geländes montierte, MZ 1000 S erinnern an bessere Zeiten.
Bis 1989 gehörte MZ zu den größten Motorradherstellern der Welt. Unzählige Erfolge feierte das werkseigene Motorsport-Team. Besonders in der Zeit von 1963 bis 1969 gewann das DDR-Nationalteam sechsmal die Trophy bei der Internationalen Sechstage-Fahrt, welche damals die inoffizielle Mannschaftsweltmeisterschaft im Motorrad-Geländesport war, aber wem erzähle ich das?
Auch am nächsten Morgen ließ der Regen nicht nach, so klingelte ich, auch wenn ich eine halbe Stunde zu früh war, bei meinem nächsten Gesprächspartner in Chemnitz. Er ist Formgestalter und wurde dieses Jahr mit dem Designpreis der Bundesrepublik Deutschland für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Zu seinen bekanntesten Entwürfen gehören der Grundentwurf für den Wartburg 353, die Simson Mokicks der Reihe S50, die MZ ETZ und Trabant Nachfolgemodelle, die aber nie in Serie gebaut wurden. Die von ihm entwickelten Mokicks fahren heute noch zu hunderttausenden durch die Straßen. Auch wegen des von ihm entwickelten „Offenen Prinzips“. Mit Freude registriert er das wieder wachsende Interesse der Öffentlichkeit daran. „Offenes Prinzip“ bedeutet Dinge austauschbar zu machen, reparierbar und langlebig zu Gestalten.
Wie im Flug sind fast zweieinhalb Stunden vergangen und ich mache mich wieder auf den Weg in den Regen. Gerne hätte ich mir noch den „Nischel“, den übergroßen Karl-Marx-Kopf, angesehen. Aber der nächste Termin bei VW in Zwickau rückte näher und der Weg durch das schlechte Wetter würde länger dauern als geplant.
Trotzdem verspätete ich mich und mein Kontakt wartete bereits. Er hatte zwanzig Jahre bei den VEB-Sachsenring Automobilwerken den Trabbi mit gebaut und arbeitete danach bis zum Ruhestand bei Volkswagen Sachsen in Zwickau. Nach der anschließenden Führung durch das Werk entschied ich mich erst am nächsten Morgen weiter zu fahren.
Auch am nächsten Morgen regnete es und in Plauen war kaum jemand auf der Straße. Was am 07. Oktober 1989 ganz anders war. An jenem Tag, dem 40. Jahrestag der DDR, fand in Plauen die erste und bis dahin größte Montagsdemonstration statt.
Der Regen ließ auch am folgenden Tag nicht nach. Es war Christi Himmelfahrt und in Thüringen wurde „Männertag“ gefeiert. Auf meiner Suche nach einer Unterkunft hielt ich an einem Gasthaus, in dem außer dem Wirt und seiner Tochter nur zwei Gäste saßen. Mit Bedauern teilte mir der Wirt mit, dass das Zimmer nicht mehr zu vermieten sei, fragte mich aber direkt nach meiner ES und nach der Herkunft meines Kennzeichens NE. Wieder wurde ich gefragt, was ein „Wessi“ mit einer MZ und dann noch hier in der Gegend mache. Nach meinen Erklärungen entwickelte sich eine lebhafte Diskussion über die Wende und ihre Folgen. Ich bin mir sicher, dass diese Diskussion noch lange nach meiner Weiterfahrt fortgesetzt wurde.
In Gernewitz fand ich eine Übernachtungsmöglichkeit. Beim Abendessen erlebte ich, was es heißt, Männertag zu feiern. Einige Männer, die eine Wanderung aus Neustadt an der Orla hinter sich hatten, saßen am Nebentisch und begannen nach einer Weile, zu singen. Einer spielte Gitarre dazu, ein anderer Akkordeon. Viele der Lieder waren aus der DDR-Zeit und mir völlig unbekannt. Nur „Am Fenster“ von City erkannte ich dann doch.
Mein Bremszug hatte sich verklemmt und funktioniert nicht mehr richtig. Nach den anstrengenden Regenfahrten der letzten Tage nahm ich dies als eine willkommene Entschuldigung, das Motorrad stehen zu lassen, bzw. in die Werkstatt zu bringen. Der Mechaniker runzelte die Stirn, als ich ihm das Motorrad zeige: „Ohhh! Das wird teuer.“ Musste ich doch selbst das Werkzeug in die Hand nehmen? Lieber hätte ich mir Jena angeschaut. Im nächsten Satz sagte er: „Der Bremszug kostet acht Euro und dazu kommen noch mal zwanzig für den Einbau.“ Erleichtert über unsere unterschiedlichen Vorstellungen von „teuer“, nahm ich sein Angebot an. So wurde es doch noch etwas mit einem kleinen Stadtbummel durch Jena. Und ich genoss ihn bei herrlichem Sonnenschein.
Nach Pentacon besuchte ich mit ZEISS in Jena die zweite Firma, die direkt mit meinem Projekt in Verbindung steht. Die von mir benutzten Objektive sind bei Carl Zeiss Jena hergestellt worden.
Am nächsten Morgen machte ich mich – direkt nach dem Frühstück – wieder auf den Weg. Weimar kannte ich schon von früheren Besuchen, daher wusste ich, dass die Innenstadt auf Hochglanz poliert wurde. Diese Stadt ist ein Paradebeispiel für die Veränderungen, die in den letzten fünfundzwanzig Jahren stattgefunden haben. Mir war es schon fast wieder zu schön – es hatte etwas von einer Fassade.
Als ich mein Motorrad abstellte und den Helm abnahm hörte ich hinter mir die Stimme einer älteren Dame: „Was will den ein Wessi mir ´ner MZ?“ Die Dame ging an mir vorbei, ohne meine Erwiderung abzuwarten und ließ mich verdattert stehen.
In Erfurt war es nicht anders als in Weimar. Auch hier erinnert kaum etwas daran, wie es noch 1989 ausgesehen haben muss. Überhaupt gab es hier im westlichen Thüringen kaum Unterschiede zu den „alten Bundesländern.“ In einem Gespräch, das ich spontan unterwegs führte, sagte ein Mann: „Die Unterschiede sind nur noch in den Köpfen der Menschen.“ Ich denke, da ist tatsächlich etwas dran. Womöglich werden viele Unterschiede herbeigeredet. Vorurteile gibt es sicher noch – Unterschiede kaum.
Das Wetter war an diesem Tag optimal. Es war sonnig, aber nicht zu heiß und so machte es nach den letzten verregneten Tag wieder richtig Spaß, Motorrad zu fahren. Da traf es sich gut, dass ich mich in Bad Langensalza wieder mit zwei MZ-Fans verabredet hatte. Auch diese beiden wollten mich einen Teil der Etappe begleiten. Sie kamen aus Mühlhausen in Thüringen. Dieser Ort lag zwar nicht auf meiner Route, aber für eine Führung durch Ortskundige änderte ich gerne meine Planung.
Sie sind 1983 bzw. 1984 geboren und kennen die DDR nur aus Kindheitstagen. Dementsprechend verbinden sie mit der DDR eine schöne und unbeschwerte Kindheit. Auch wenn sie die DDR nicht mehr zurückhaben wollen, betonen sie beide, dass sie stolz darauf sind, „Ossis“ zu sein.
Auf einer kaum befahrenen Nebenstrecke führten die beiden mich bis kurz vor Nordhausen, bevor sich unsere Wege trennten und ich alleine den Harz hinauf fuhr.
Die Wernigeroder Altstadt besteht zum größten Teil aus denkmalgeschützten Fachwerkhäusern. Hier war ich eingeladen, eine Nacht in einem der ältesten Hotels im Ort zu verbringen.
Das Hotel „Zur Tanne“ wird in der dritten Generation – seit 1905 – als Familienbetrieb geführt. Auch während der DDR-Zeit. Die vierte Generation arbeitete bereits mit und wird die Familientradition weiterführen.
Xfehsi hat auch eine MZ ES mit Beiwagen und begleitete mich auf dem ersten Teilstück der nächsten Etappe von Wernigerode nach Osterwieck. Er führte mich zuerst über Ilsenburg, dem Tor zum Harz am Fuß des Brockens. Zu DDR-Zeiten der letzte Ort, der ohne Passierschein erreichbar war. Westlich von hier erstreckt sich das „Grüne Band“, ein Naturschutzprojekt verschiedener deutscher Bundesländer, welches auf einer Länge von 8500 Kilometer durch 24 europäische Staaten verläuft.
Danach wurde die Zeit etwas knapp. Ich musste mich beeilen, um rechtzeitig nach Leipzig zu kommen. Dort standen Termine mit Bürgerrechtlern auf dem Programm. In Halle Neustadt machte ich einen Zwischenstopp. Erst 1963 beschloss das Zentralkomitee der DDR den Bau dieses Plattenbaugebietes in dem 1981 93000 Menschen wohnten. Heute hat sich auch hier die Einwohnerzahl halbiert und viele der Plattenbauten sind „zurückgebaut“ worden. Halle Neustadt wirkte daher nicht mehr ganz so erschreckend auf mich wie bei meinem Besuch 1990.
Allerdings hatte ich beim nächsten Tankstopp ein erschreckendes Erlebnis: Ein Mann kam auf mich zu und bewunderte meine ES. Nachdem er anfänglich die DDR-Ingenieurskunst lobte schlug die Stimmung plötzlich um und er begann auf die „Treuhand“, die Regierung und die „Wessis“ zu schimpfen. Ich hoffte das er mein Kennzeichen nicht sehen konnte und stellte mich zur Sicherheit davor. Als er anfing davon zu sprechen alle Politiker und Wessis erschießen zu wollen beendete ich das Gespräch und fuhr weiter. Ich war froh, von dort weg zu kommen.
Pünktlich kam ich in Leipzig an – leider auf der falschen Seite, und ich musste im Berufsverkehr einmal an´s andere Ende. Als ich endlich das Haus meines nächsten Interview-Partners erreichte hatte ich eine Stunde Verspätung. Meine Freundin, die mich auf den letzten Etappen begleiten wollte, wartete bereits auf mich.
Seine Frau bewirtete uns mit Kaffee und Kuchen. In dieser angenehmer Atmosphäre starteten wir das Interview und er erzählte mir vom Herbst 1989 in Leipzig. Viel zu interessant war das Gespräch als dass ich dies hätte früher beenden können. Daher kamen wir auch zum nächsten Termin viel zu spät.
Noch ein Bürgerrechtler, der die friedliche Wende mit gestaltet hat.
Nach dem Besuch der Nikolaikirche fuhren wir Richtung Bitterfeld. Im Ortsteil Wolfen, auf dem Gelände des ehemaligen VEB Filmfabrik Wolfen – FCK, befindet sich das Filmmuseum Wolfen. Dort bekam ich einen Eindruck über die Dimensionen der ORWO-Werke zu DDR-Zeiten, als bis zu 15 000 Menschen hier arbeiteten. Als ich die Luftaufnahmen des einstigen Werkes mit den „kümmerlichen“ Überresten heute verglich, bekam ich ein flaues Gefühl im Magen.
Bis zur Wende war ORWO einer der größten Filmhersteller der Welt. Nach diversen Insolvenz-Verfahren und eine Aufspaltung schafften unter anderem es die Firmen FilmoTec ORWO und ORWO Net, sich zu positionieren – FilmoTec im Bereich Spezialfilmherstellung und ORWO Net im Bereich Labordienstleistungen und diese Firmen besuchte ich.
Am nächsten Morgen trafen wir uns mit EmmasPapa an der Fähre von Coswig. Die Straße dorthin war eine der heftigsten Kopfsteinpflaster-Strecken, die ich auf der Tour erlebt habe. Pünktlich trafen wir an der Fähre ein und sahen EmmasPapa auch schon übersetzen. Von unserem Treffpunkt aus fuhren wir an der Elbe entlang. Es gab keinen Hinweis, dass wir den Fahrradweg über die Autobahnbrücke der A9 bei Coswig nicht befahren durften und so überquerten wir dort die Elbe. Unser Wagemut wurde mit einem tollen Ausblick belohnt.
Als nächsten Stopp schlug EmmasPapa Wittenberg vor. Die Stadt ist bekannt als Wirkungsstätte Martin Luthers und so konzentriert man sich sehr stark auf die Entwicklung des Tourismus: die Lutherstadt präsentiert sich vor allem als „Wallfahrtsort“ der Reformationsgeschichte.
Von dort ging es weiter zur Burg Rabenstein. Wir genossen den Ausblick vom Burgturm über das Urstromtal.
Unser nächstes Ziel, den geografischen Mittelpunkt der ehemaligen DDR, suchten wir eine Weile. Er liegt in der Nähe von Bad Belzig, zwischen Verlorenwasser und Weitzgrund. Schließlich fanden wir ihn an einer einsamen Straße mitten im Wald. Wir hätten uns etwas zu picknicken mitnehmen sollen, hier wäre ein guter Platz dafür. So machte sich der Hunger bemerkbar und wir fuhren weiter in Richtung Potsdam, wo sich irgendwann auf der Strecke unsere Wege wieder teilten.
Bei der Planung der Reise hatte ich gedacht, diese vorletzte Etappe würde nur noch dazu dienen, mein Ziel zu erreichen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass dies eine der schönsten Etappen sein würde – was natürlich vorrangig an EmmasPapas Führung und seinen Erklärungen lag. Ohne dieses Hintergrundwissen wäre mir viel entgangen. Vieles hätte ich sonst nicht gesehen. Ein schöner Abschluss vor unser Ankunft in Berlin.
Bereits vor der Abfahrt, an diesem letzten Reisetag, fühlte es sich so an, als sei die Reise vorbei. Dabei war es noch ein ganzes Stück zu fahren – vor allem durch den Berliner Stadtverkehr. Stopps waren an diesem Tag selten. Eine Ausnahme bildete die Glienicker Brücke. Sie wurde vor allem als „Agentenbrücke“ bekannt, da hier mehrfach Gefangene zwischen Ost und West ausgetauscht wurden.
In Berlin gab es noch einige Termine, unter anderem mit dem Leiter des DDR-Museum und ein Besuch in der Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Hohenschönhausen. Ein Zeitzeuge, der Besucher durch das Gefängnis führte, war von März bis Oktober 1985 hier inhaftiert und spricht mit mir über diese Zeit. Ein weiterer Oppositioneller, der an der nie in Kraft getretenen Verfassung der DDR mitgearbeitet hat und ein Fluchthelfer waren weitere Gesprächspartner in Berlin. Zudem besuchte ich noch das „Stasi“-Archiv, das „Stasi“-Museum und den Grenzübergang an der Bornholmer Straße, nach der Nikolaikirche in Leipzig der wohl wichtigste und berühmteste Ort der Wendegeschichte. Am 9.11.1989 um 23:30 Uhr wurden hier die Passkontrollen eingestellt und der Fall der Berliner Mauer, die so lange Jahre die Teilung der Welt repräsentierte, besiegelt. Heute erinnern nur noch ein paar Fotos und Gedenktafeln an den Grenzübergang.
Berlin ist gespickt mit solchen Erinnerungsstätten an die Deutsche Teilung. Nirgendwo sonst wird einem dieser Aspekt der deutschen Geschichte so bewusst wie hier in der ehemals geteilten Stadt. So spazierten wir an diesem Tag über den Mauerweg, vorbei am Mauerpark bis zur Gedenkstätte Deutsche Teilung an der Bernauer Straße. Hier gehörte die eine Straßenseite zu West-Berlin und die andere, getrennt durch die Mauer, zu Ost-Berlin. Viele Hinweisschilder erinnern an die vielen Fluchtversuche und die zahlreichen Opfer. Die Bilder derer, die während des Mauerbaus und kurz danach versuchten, mit waghalsigen Sprüngen aus den Fenstern der Häuser zu fliehen, sind sicher vielen Menschen noch präsent. Später wurden in den Kellern der anliegenden Häuser Tunnel gegraben. Bei einigen der Fluchtversuche half einer meiner Interviewpartner. Mit ihm spazierte ich dann auch über die Linie, die den früheren Verlauf der Mauer kennzeichnet.
Am 08.06.2014, 35 Tage nach meinem Start in Marienborn, fahre ich auf das Brandenburger Tor zu. Jahrzehnte war es das Symbol der Deutschen Teilung. Nach 3491 Kilometern habe ich mein Ziel erreichte und schiebe – eine Durchfahrt ist heute verboten, da die Abgase des Verkehrs das Tor zu zerstören drohten – die ES auf das Gebiet des früheren West-Berlin.
Vieles musste ich aus diesem Text kürzen, oder konnte ich gar nicht erzählen. Ich hoffe dennoch, dass ihr einen Eindruck über diese für mich so interessante und ereignisreiche Reise bekommt. Auch wenn ich gerne mehr Zeit gehabt hätte und noch mehr hätte besuchen wollen hat sich für mich die Reise auf jeden Fall gelohnt.
Vielen Dank für Eure zahlreichen Tipps, die mir bei der Umsetzung des Projektes sehr geholfen haben. Die Tage, die ich mit denen, die mich begleiteten verbrachte werden mir unvergessen bleiben.
Fuhrpark: MZ ES250/1 BJ 1964