Erlebnisse mit einer Sachsenharley
Damals war es, Anno `78. Als hoffnungsvoller Lehrling, zu Neudeutsch Azubi wollte ich mir ein zuverlässiges Motorrad zulegen. Damals wurden zwar noch kleine japanische Maschinen angeboten, nur konnte ich mir deren Bezeichnungen gar nicht so schnell merken, wie die Modelle wechselten. Doch die MZ, dieses ulkige Antikmöbel, gab es wie eh und je. Die Suche nach dem Hildesheimer Händler gestaltete sich ähnlich einer Schnitzeljagd. Schließlich fand ich das Haus, an dessen Toreinfahrt nur das Schild ,Räder-Emmel? den Weg wies. Im Hinterhof befand sich die Werkstatt, ein langgestreckter flacher Anbau, der schon leicht renovierungsbedürftig schien. Zwei Stufen hoch, die Tür öffnete nach außen und es erklang ein Glockenspiel wie in einem Tante-Emma-Laden früherer Jahre. Hier drinnen standen jede Menge Fahrräder, neue und gebrauchte. An den Wänden hingen viele alte Pendeluhren, dazwischen vergilbte Bilder und Urkunden. Auf dem Ladentresen aber, durch dessen verkratztes Glas sich ein langer Sprung zog, lag ein großer Schinken!
Erstaunt schaute ich mich um und fragte mich, wohin ich denn hier geraten sei. Aus der Werkstatt war das Klingeln eines Schraubenschlüssels zu hören. Gleich darauf stand vor mir ein Mann mittleren Alters in einem grauen Kittel, der auch schon bessere Tage gesehen hatte. Auf dem Kopf trag er eine speckige Ledermütze. Unschwer zu erraten, es war der Inhaber dieser originellen Gemischtwarenhandlung. Verschmitzt sah er mich an und fragte, was er für mich tun könne.
Eigentlich interessierte mich eine 125er MZ, antwortete ich, aber ich sei wohl im falschen Laden gelandet und wies auf die Fahrräder und den großen Schinken. Er lachte und meinte, hauptsächlich würde er natürlich Räder verkaufen, aber eigentlich sei er gelernter Metzger, doch eine MZ könne ich natürlich auch bei ihm bekommen! Mich amüsierte das sehr, denn dieses vielseitige Original hätte mir auf Wunsch sicherlich auch eine Dampfwalze besorgen können. Eine Probefahrt sei auch kein Problem, entgegnete er auf meine nächste Frage, da er zur Zeit eine gebrauchte, fast baugleiche 150er stehen habe, die nur noch repariert werden müsse. Wir sprachen den Termin ab und klönten noch eine ganze Weile miteinander, denn solche ungewöhnlichen Leute trifft man schließlich nicht alle Tage. Erstaunlich war das schon. Dieser vergleichsweise kleine Händler ermöglichte mir ohne weiteres eine Probefahrt, während eine Tage vorher ein Japan-Dealer, in dessen sterilem 0815-Laden sich die neuesten Modelle stapelten, ein solches Ansinnen entrüstet abwies. Er könne sich doch nicht von jedem Modell eine Vorführmaschine hinstellen. Verständlich, aber die Katze im Sack mochte ich nun doch nicht kaufen.
Einige Tage später traf ich wieder bei der Fa. Emmel ein, ausgerüstet mit den üblichen Motorradklamotten. Wenn ich aber nun geglaubt hatte, mit der MZ frischfröhlich loszwitschern zu können, so war das ein Irrtum. Der Meister bremste meinen damals jugendlichen Tatendrang und eröffnete mir, er würde jetzt mit mir zum Volksfestplatz fahren. Dort sei im Moment nicht los, da könne ich keinen Schaden anrichten. Na, großartig! Er stülpte sich einen uralten Helm auf, schloss seinen Laden ab und holte das Motorrad aus dem nahen Schuppen. Die Mühle sprang auch gleich mit einer atemberaubenden Ölwolke an und dann rollten wir ganz betulich unserem Ziel entgegen, ich auf dem Soziussitz!
Auf dem Festplatz, der mit seinem asphaltierten Straßenrechteck und den angrenzenden Wiesen für solche Zwecke ideal war, schwang ich mich an den Lenker ? und Meister Emmel setzte sich hintendrauf ? damit ich nicht gleich so wild losfegen würde, wie er mir schmunzelnd auf meinen entgeisterten Blick erklärte. Ach du meine Güte, weder er noch ich ahnten, was uns im nächsten Moment bevorstehen würde.
Doch dazu muss ich vorher etwas erklären. Die Fahrschulzeit lag gerade hinter mir, absolviert auf einer Kawasaki Z 200. Dieser kleine Viertakter mit 17 PS brauchte zum Anfahren wenigstens 2.500 Touren, sonst starb der Motor schlagartig ab. Mit meiner bemerkenswerten Fahrpraxis von drei Fahrstunden saß ich nun auf der MZ, zog die Kupplung, legte den Gang ein und gab Gas. Nun hatte diese Mühle aber keinen Drehzahlmesser. Also brachte ich den Motor immer noch in Gedanken an die Kawa-Drehzahlen nach Gehör auf Touren und ließ die Kupplung kommen ? oha! Diese 150er hatte zwar nur 12 PS, aber das Drehmoment kam dafür aus dem tiefsten Keller! Das Vorderrad schwebte gleich in meiner Nasenhöhe, Tendenz steigend. Von hinten erscholl ein wahrer Urschrei und im nächsten Moment war mir, als umklammere mich ein Freistilringer. Blitzartig trat ich auf das Bremspedal und brachte das Vorderrad wieder auf die Straße zurück. Mein Beifahrer erwies sich als Gemütsmensch und kommentierte meine Luftnummer nur mit dem trockenen Hinweis, dass die Maschine zum Anfahren kaum Gas brauche, da der Motor genügend Schwungmasse habe. Vom Mitfahren ließ er sich jedoch nicht abbringen. Drei Runden drehten wir auf diese Weise, bis ich allein und um einiges zügiger allein lossausen durfte. Anschließend fuhr ich zurück, wobei ich es mir nicht verkneifen konnte, die Fahrwerksqualitäten der MZ auf einen leicht hochstehenden Kanaldeckel zu testen. Das Motorrad steckte diesen Schlag tadellos weg, nur von hinten gab es einen leicht missbilligenden Kommentar. Den Meister Emmel habe ich heil abgeliefert und die Bestellung für mein erstes Motorrad unterschrieben. Zehn Tage später war ich stolzer Besitzer einer nagelneuen knallroten MZ TS 125, übrigens mit Drehzahlmesser! Der wohlgemeinte Rat bei der Schlüsselübergabe lautete übrigens, die ersten 2 ? 3.000 Kilometer alleine zu fahren. Welcher Händler würde das heute zu einem Kunden sagen!

An der ,Mordmühle' nahe Groß Düngen / Hildeheim. Dieses Foto kann man wirklich als
historisch bezeichnen. Das Gebäude und auch den alten Streckenverlauf der B 243 gibt
es in dieser Form nicht mehr.
Mit meinem neuen Vehikel besaß ich nun ein recht genügsames und solides Bauernmotorrad, das sogar einen komplett geschlossenen Kettenkasten aufweisen konnte. Wartungsarbeiten und kleine Reparaturen ließen sich problemlos mit dem gut bestückten Bordwerkzeug erledigen. Ein paar Verbesserungen waren natürlich notwendig. Statt der Serienreifen ? die hätten besser als Radiergummis getaugt ? kamen nach einiger Zeit Metzler zum Einsatz. Auch war die Leistung der 6-V-Lichtmaschine nicht allzu hoch. Der 170 mm-Scheinwerfer brachte zwar gutes Licht, aber die Blinker waren recht dunkel.. Daher ersetzte ich sämtliche Polklemmen durch solche aus Messing und lötete die Kabel an. Damit reduzierten sich die Übergangswiderstände deutlich. Beim Öffnen der Blinker stellte ich fest, dass eine Verspiegelung der Reflektoren im sozialistischen Fünfjahresplan nicht vorgesehen war. Also klebte ich Alufolie ein, das erfüllte den selben Zweck. Die Batterie habe ich später gegen ein West-Erzeugnis ausgetauscht. Sonst war das Maschinchen aber von recht guter Qualität.
Nur einmal hat mir die Elektrik einen Streich gespielt. Nach einer herrlichen Tour durch den Harz erreichte ich das Städtchen Langelsheim. Vor einer roten Ampel bremste ich die MZ ab, zog die Kupplung und laut ertönte die Hupe! Eine ältere Dame sah sich zu einer Sprinteinlage veranlasst und äußerte sich recht negativ über mich. Ich war wohl versehentlich an den Hupentaster gekommen ? glaubte ich zumindest.. Die Ampel schaltete um, die Seniorin hatte sich zwischenzeitlich in Sicherheit gebracht. Ich zog die Kupplung, erster Gang ... und wieder hupte es! Das gab?s doch gar nicht! Die 125er trabte munter los. Kupplung, zweiter ... erneut meldete sich das Horn! Beim nächsten Betätigen der Kupplung erklang die Hupe noch ganz kurz, die Drehzahl fiel schlagartig in den Keller und der Motor ging aus. Die Sicherung war geflogen!
Nun hatte mein Museumsstück aber eine Einrichtung, die man an modernen Maschinen vergeblich sucht. Durch Rechtsdrehung des Schlüssels wurden Lichtmaschine und Zündung direkt miteinander verbunden. Im zweiten Gang kräftig geschoben ? sonst reichte der Zündstrom nicht ? und der Motor sprang tatsächlich wieder an! Nur das Licht konnte ich nicht einschalten. Daher beeilte ich mich, nach Hause zu kommen, denn es dämmerte schon.
In der Garage untersuchte ich die Sache genauer. Des Rätsels Lösung? Beim Betätigen der Kupplung bewegte sich der Seilzug und drückte gegen das Hupenkabel. Am Schaltergehäuse wurde die Isolierung abgerieben, es gab einen Masseschluss und die Hupe legte los. Das wiederum nahm die Sicherung schließlich übel, verabschiedete sich und das Motorrad bleib stehen. Kleine Ursache, originelle Wirkung.

Mit der TS 125 am Roten Berg, nahe Hildesheim/Diekholzen
Allzu schnell war mein Vehikel zwar nicht, aber einmal gelang es mir, damit auf gerader Strecke eine BMW R 100 RS (70 PS) abzuhängen. Das glaubt natürlich keiner, aber die Umstände waren auch besondere. Der Wind näherte sich bald der Orkanstärke, quer zur Fahrtrichtung. Mit enormer Schräglage und ungefähr 70 Sachen auf dem Tacho zwitscherte ich dahin. Mehr war nicht möglich, sonst wäre ich samt der Sachsenharley davongeflogen.
Vor mir fuhr die besagte BMW, deren Fahrer durch die Vollverkleidung noch mehr mit dem starken Seitenwind zu kämpfen hatte. Bekanntlich steht das Kürzel RS ja auch für Regatta-Segler. Die fliegende Gummikuh brachte geschätzt keine 60 km/h auf die Uhr. Hart am Wind liegend ging ich auf Überholkurs. Als ich mit dem Bayernclipper auf gleicher Höhe war, schaute der Kapitän ganz entgeistert herüber, als wolle er seinen Augen nicht trauen. Doch es gab kein Erbarmen. Hilflos musste er mit ansehen, wie ein Kolchosendampfer ihn versägte. Kurz darauf bot sich mir in den Rückspiegeln das einmalige Schauspiel, wie das weißblaue Segelschiff langsam im Hintergrund verblasste ... .
Unbedingt muss ich noch die Geschichte von den Dachrinnen erzählen. Da ich auf die MZ bei Wind und Wetter angewiesen war, hatte ich zunächst am vorderen Schutzblech einen zusätzlichen Spritzschutz angebracht. Dennoch wurden Stiefel und Hosenbeine des Belstaff noch reichlich mit Straßenschmutz bespritzt. Sehr nett wurde es mit Beginn der Rübenernte, als die Landwirte mit ihren Traktoren halbe Äcker auf den Straßen verteilten. Folglich fabrizierte ich mir ein paar Beinschützer, frei nach den damaligen Produkten der Fa. Heinrich. Je eine verzinkte Gewindestange M 10 von einem halben Meter Länge schraubte ich durch die vordere Motoraufhängung und direkt hinter dem Lenkkopf ein. Dort befand sich bereits eine Bohrung im Blechpressrahmen. Überzogen wurden die Stangen mit klarem PVC-Schlauch. Plastikfüße, eigentlich für Stuhlbeine gedacht, entschärften die Enden. Nun kam der Witz des Ganzen: Kunstoff-Dachrinnen, die bekanntlich sehr schlagfest, zäh und auch elastisch sind, schnitt ich passend zurecht und versah sie außen mit selbstklebender Folie, die zufällig im roten MZ-Farbton erhältlich war. Als Kantenschutz diente rundes geschlitztes Profil-Moosgummi in schwarz.
Vorbereitet hatte ich diese Teile im Keller, nun sollten sie draußen ans Motorrad geschraubt werden. Gerade passte ich die Schraubschellen ein, welche die stark modifizierten Dachrinnen an den Gewindestangen halten sollten, da schaute unser Nachbar neugierig über die Hecke und erkundigte sich, was ich dort mache. Die wahrheitsgemäße Antwort, ich würde mir jetzt Dachrinnen ans Motorrad schrauben, quittierte er unverständlicher Weise mit der gemurmelten Bemerkung ,Unverschämtheit?. Manche Leute haben einfach keine Phantasie!

Die TS mit Falk-Boxen, selbstgebauten Beinschützern und dem ,Schlabberlätzchen' am vorderen
Schutzblech. Hier ist sie noch mit dem flachen Lenker ausgestattet.

An der MZ hatte ich kurz darauf auch den höheren Tourenlenker montiert, den ich in die Fahrzeugpapiere eintragen ließ. Bei dieser Gelegenheit fragte ich den TÜV-Mann so halb zum Spaß, ob solch ein Beinschutz auch eingetragen werden müsse. Der Gute marschierte um das Motorrad herum und betrachtete eingehend die Innenseiten der Beinschützer. Zunächst überlegte ich, was ihn daran so faszinieren könne. Dann schwante mir etwas. Dort stand nämlich jeweils eine aufgestempelte DIN-Nummer ? natürlich die der Dachrinnen! Der TÜV-Mensch erhob sich und erklärte, dass dieser Anbau nicht eingetragen werden müsse, er habe ja eine werksmäßige DIN-Prüfnummer. Ich habe mich mächtig zusammenreißen müssen, da ich sonst beinahe vor Lachen geplatzt wäre. Den TÜV-Prüfer habe ich in seinem Glauben gelassen.
Die bemerkenswerten Fahrwerksqualitäten der MZ hatte ich schon kurz erwähnt. Die Gabel mit einem Federweg von 185 mm (mehr als bei den damaligen Boxer-BMWs) und die Federbeine mit 105 mm steckten im wahrsten Sinne des Wortes alles weg. Feldwege konnte man im Endurostil unter die Räder nehmen. Einmal habe ich das Fahrwerk jedoch ungewollt getestet. Eines Morgens im Berufsverkehr war ich durch eine Umleitung reichlich spät dran. Fast 70 km/h zeigte der Tacho, als ich mich dem Bahnübergang Waterloostraße in Hildesheim näherte. Dort wurde die zweigleisige Strecke in einer überhöhten Kurve geführt, eine regelrechte Sprungschanze also, die ich völlig unterschätzt hatte. Das leichte Motorrad hob für einem Moment ab. Ich dachte, jetzt lege ich mich hin, ging in die Fußrasten, zog die Maschine vorne noch ein wenig hoch und hielt den Lenker fest ? da setzte sie erst hinten, dann vorne mit einem ziemlichen Schlag auf, ging tief in die Federung, jedoch nicht auf Block ? und lief weiter tadellos geradeaus, ohne jeden Schlenker. Der Schreck saß mir ziemlich in den Knochen. Ganz leise habe ich mich bei den Fahrwerkskonstrukteuren bedankt.
Im Sommer `79 erlebte ich einen bemerkenswerten Beinahe-Unfall in der Ortschaft Altencelle. Vor mir fuhr ein Traktor mit Anhänger. Mit waagerecht gelegten Seitenwänden war der Gummiwagen so breit wie hoch mit Strohballen beladen. Einen entgegenkommenden Lieferwagen wartete ich noch ab, dann setzte ich zum Überholen an. Kräftig am Gas gedreht und zehn brutale PS zerrten mächtig am Hinterrad.. Mit dem Anhänger auf gleicher Höhe sah ich plötzlich, wie sich das Vorderrad des Traktors nach links drehte und die Zugmaschine herumkam. Verdammt, der Bauernhof auf der linken Straßenseite!! Reflexartig legte ich das Motorrad in größte Schräglage und flitzte vor dem erstaunten Bauern durch die Hofeinfahrt.
"Sind das Ihre Hühner?"
"Nee - so platte ham wer nich!"
Zuerst hätte ich den Traktorfahrer glatt erwürgen können, doch dann fragte ich ihn möglichst friedlich, warum er nicht geblinkt habe. Er schaute mich ganz groß an und meinte, das habe er doch getan. Merkwürdig! Ich turnte auf den Traktor und betätigte den Hebel: Die Blinker liefen. Hinten am Anhänger geschaut ? aha, der ging nicht. Die Birne war schlicht durchgebrannt. Den Blinker des Traktors hatte ich nicht sehen können, denn der war durch den überbreit beladenen Hänger verdeckt worden. Das wäre es beinahe gewesen! Seitdem habe ich einen Heidenrespekt vor landwirtschaftlichen Fahrzeugen und anderen merkwürdig dahinschaukelnden Vehikeln.
Mit der kleinen MZ legte ich in knapp zwei Jahren runde 24.000 Kilometer ohne besondere Probleme zurück. Doch in dem immer schnelleren Straßenverkehr war ich damit irgendwie verraten und verkauft. So fand das brave Muli schließlich einen neuen Besitzer und ich stand kurz darauf wieder in Meister Emmels Laden, um mein nächstes Motorrad zu bestellen - eine MZ TS 250/1.[/font]
Gruß, Jürgen