von Wolf-Ingo » 4. Oktober 2008 14:20
Daseinsvorsorge an erster Stelle
Diesmal sollte es nach Norden gehen, zum Nordkap und dann weiter nach Osten bis kurz vor Murmansk. Mir war klar, dass das bisher verfolgte Konzept, möglichst wenig Gepäck mitzunehmen und alles an Ort und Stelle zu kaufen, bei den hohen skandinavischen Preisen kaum realisierbar war. Also setzte ich nun auf das krasse Gegenteil und packte alles zusammen, was mir auf meiner langen Reise vonnöten schien: Sechs Liter Zweitaktöl, 30 Dosen Wurst- und Fleischkonserven, ein rundes Dutzend Fertiggerichte, mehrere Packungen Vollkornbrot, 8 l Wein in praktischen Plastikcontainern, diverse Dosen Bier, ein Ersatzreifen samt Schlauch, warme Unterwäsche, dicke Pullover, eine gefütterte Regenkombi, Schlafsack samt Zelt und eine ganze Menge anderer Dinge lagen schließlich zur Mitnahme bereit. Sie kamen in meine bewährten Waschmittelkartonpacktaschen und in einen riesigen Sack, den ich quer zur Fahrtrichtung auf Sitzbank und Packtaschen ablegte. Einen zweiten, kaum kleineren Sack schnallte ich auf den Gepäckträger. Er enthielt den Schlafsack, das Zelt und die gefütterte Regenkombi. Und ganz oben auf den beiden Säcken, nahezu in Schulterhöhe, thronte der Ersatzreifen. Als ich den ganzen Krempel am Vorabend meiner Abreise wog, bekam ich einen herzhaften Schreck: Die Waage zählte nicht weniger als 85 kg.
Am Morgen des 7. Juli 1989 startete ich meine Reise von Tübingen aus. Die ersten Kilometer waren furchtbar. Ich hatte das Gefühl, ein „Schlachtschiff“ statt eines Motorrades unter dem Hintern zu haben, bei dem aus unerfindlichen Gründen auch noch die Hinterradbremse ausgefallen schien. Da Lauffen am Neckar ohnehin recht nahe am Weg lag, steuerte ich kurz entschlossen die Firma Motorsport-Probst an, wo man das Problem sogleich löste: Ich hatte den Seitenständer so unglücklich montiert, dass sich Lagerbock und Bremsgestänge gegenseitig ins Gehege kamen. Mit der peinlichen Erkenntnis, dass ich den Fehler eigentlich selbst hätte finden können, setzte ich meine Reise bei strahlendem Sonnenschein fort. Am Ende des zweiten Fahrtages schlug ich mein Zelt bereits im dänischen Hirtshals auf. Mehr als 1.000 km Fahrtstrecke auf den Autobahnen A 81 und A 7 entlang der Route Würzburg- Hannover-Hamburg lagen hinter mir. Voller Vorfreude dachte ich an die bevorstehende Überfahrt nach Kristiansand.
Auf der Fähre lernte ich Rolf aus Tuttlingen kennen, der mit seiner K 100 das gleiche Ziel ansteuerte wie ich. Wir beschlossen die Fahrt gemeinsam fortzusetzen und düsten von Kristiansand aus nach Nordwesten. Auf einem Zeltplatz östlich von Bergen übernachteten wir, um anderen Tags zwei Weltwunder zu bestaunen. Die Sicht von der über 1.000 m hoch gelegenen Felskante auf den Geirangerfjord war wirklich atemberaubend. Auch die Fahrt über die Trollstiegvei, eine serpentinenreiche Passstrasse von Hochgebirgsformat, beeindruckte uns sehr.
Nach zwei Tagen gemeinsamer Tour hatte ich genug von der Gesellschaft und wollte wieder alleine sein. Unter dem Vorwand, die Fjorde im Südwesten zu besichtigen, verabschiedete ich mich von Rolf. Da er insgeheim wohl sehr skeptisch geblieben war, ob ich es mit meiner MZ wirklich bis zum Nordkap würde schaffen können, wertete er meine Entscheidung vermutlich als Rückzieher. Jedenfalls erhielt ich von ihm nach Beendigung meiner Reise einen Brief, dem ein schönes Foto vom Nordkap beilag. Versehen war es mit dem süffisanten Kommentar: „Damit Du weißt, was Du verpasst hast.“ Er sollte sich gründlich getäuscht haben.
Schneegestöber im Juli
Nördlich von Trondheim verließ ich die Europastraße 6 und entschied mich für das langsamere, aber viel reizvollere Inselspringen auf den gewundenen Nebenstraßen entlang der Hurtigrouten. Am Meer warteten zwei unangenehme Überraschungen auf mich. Eine davon bestand aus einer gewaltigen Wolkenwand, die vom Atlantik her ostwärts zog und einen gravierenden Temperatursturz ankündigte. Die folgenden Tage wurden nicht nur eiskalt, sondern auch recht nass. Wenn es nicht regnete, dann schneite es. Unter diesen Umständen war ich sehr froh, in einer gefütterten Regenkombi zu stecken.
Die zweite schlechte Nachricht bestand darin, dass meine doppelt verstärkte IWIS-Kette immer häufiger übersprang, was angesichts ihrer Laufleistung von ca. 30.000 km und des gewaltigen Fahrzeuggewichts eigentlich kein Wunder war. Warum ich sie vor Antritt einer derart langen Reise nicht vorsorglich erneuert hatte, bleibt mir auch heute noch ein unbegreifliches Mysterium. Die anhaltende Suche nach Ersatz sollte nicht nur recht lästig werden, sondern auch noch einen Umweg von mehr als 1.000 km Länge nach sich ziehen. Die MZ forderte übrigens nicht nur eine neue Kette, sondern auch noch jede Menge Brennstoff: Bis zu 7,8 l Benzin flossen durch ihren Vergaser, wenn ich kräftig genug am Quirl drehte. Einmal erreichte ich die nächste Zapfsäule nur deshalb, weil ich die Mühle schief gestellt und so den letzten Tropfen von der rechten in die linke Tankhälfte befördert hatte.
Als ich den Fahrer der uralten R 50 vor mir sah, fröstelte ich noch mehr. Er trug einen Halbschalenhelm mit Brille und setzt den ungeschützten Teil seines Gesichts ganz unbeeindruckt dem eiskalten Fahrtwind und den Nadelstichen des heftig prasselnden Regens aus. Der Mann war um die sechzig und berichtete mir von seinen ausgedehnten Fahrten in Süd- und Nordamerika, auf denen das Wetter noch weit schlechter gewesen sei. Ich gewann großen Respekt vor dem abgeklärten, alten Fahrensmann. Eine Fehlfunktion an seinem betagten Boxer beendete dann unsere gemeinsame Fahrt nach wenigen Stunden. Ganz sicher fand der alte Hase den Fehler bereits nach kurzer Zeit.
First Class Übernachtung
Die rund 800 km lange Strecke zwischen Vennesund und Narvik legte ich – ganz unfreiwillig – an einem einzigen Tag zurück. Der Regen verwandelte den Boden in einen grundlosen Morast und vertrieb jeden Gedanken an Camping. Nachdem mir entgegenkommende Motorradfahrer berichtet hatten, dass der Zeltplatz von Narvik ein wahres Schlammloch sei, begann ich von einer trockenen Höhle am Straßenrand zu träumen. Natürlich fand ich keine. Als ich nachts um halb zwei endlich in Narvik einrollte, hatten die Hotels bereits geschlossen. Bei meinen ziellosen Fahrten durch die Vororte bemerkte ich dann eine Ansammlung verfallender Holzhäuser. Blitzschnell ergriff ich meine Chance, stellte den Motor ab und rollte ganz leise in einen verlassenen Schulhof hinein. Eines der Gebäude besaß neben drei übrig gebliebenen Außenwänden sogar noch ein dichtes Dach. Dass es sich dabei um eine Örtlichkeit von ganz spezieller Funktion handelte, war zwar weniger schön, unter den gegebenen Umständen aber kaum zu ändern. Also lud ich meine MZ ab, verschaffte mir mit einem Poncho etwas Sichtschutz zur Straße hin und legte mich im ehemaligen Scheißhaus der Grundschule von Narvik zur Ruhe. Der Qualität des Schlafs war das nicht abträglich.
Nach dem obligatorischen Besuch des örtlichen Kriegsmuseums und einer ergebnislos gebliebenen Suche nach einer neuen Antriebskette verließ ich Narvik wieder. Vorbei an den letzten Resten deutscher Großmachtträume, den 1940 im Olotfjord gesunkenen Zerstörern der nationalsozialistischen Kriegsmarine, führte mich die Straße nach Norden Richtung Hammerfest. Bei Alta wechselte ich meinen Hinterradreifen auf einem Kaufhausparkplatz und lagerte den verschlissenen Pneu ganz diskret am Gebäude des benachbarten Reifenhändlers ab. Der Aufenthalt auf dem bald darauf entdeckten Zeltplatz ist mir auch heute noch so präsent wie vor 18 Jahren. Die Mückenschwärme dort waren so dicht, dass ich es vorzog, mein Abendessen in voller Motorradkluft abzukochen. Eine halbwegs nebenwirkungsfreie Einnahme der Suppe war nur durch eine sehr ausgefeilte Technik zu erzielen: Während die linke behandschuhte Hand das Moskitonetz vor dem Gesicht ein wenig anhob, musste die ebenso geschützte Rechte den Löffel absolut synchron in den Mund schieben und ihn blitzschnell wieder herausziehen, woraufhin die Linke das Netz umgehend nach unten zu ziehen hatte. Stiche bekam ich trotzdem noch genügend ab. Sympathischer war mir dagegen eine ganz andere Erscheinung: Selbst um Mitternacht blieb es immer noch so hell, dass man im Zelt die Zeitung lesen konnte – vorausgesetzt, man war des Norwegischen mächtig.
Nach einem ausgedehnten Frühstück führte mich der Weg über Hammerfest bis in die Nähe von Russenes, wo ich Quartier bezog und am nächsten Tag ohne Gepäck bis zum Nordkap aufbrach. Etwas enttäuscht stellte ich fest, dass sich der sturmumtoste Ort nur unwesentlich von dem Landschaftsbild unterschied, das ich seit 2.000 km vor Augen hatte. Nachdem auch der Versuch, meine Frau vom Besucherzentrum aus anzurufen, kläglich gescheitert war, verließ ich die Insel wieder und fasst den Entschluss, meine Fahrt weiter nach Osten bis zur russischen Grenze fortzusetzen. Ich hoffte inständig darauf, in Kirkenes endlich eine neue Kette kaufen zu können, wurden doch die lästigen Nachspannintervalle des stark verschlissenen Altteils immer kürzer. Die Gefahr nahm zu, dass es letztendlich seinen Geist aufgab und einfach riss.
212 km bis nach Murmansk
Die Hoffnung trog. Statt eines Kettenangebots wartete eine andere Überraschung in Kirkenes auf mich. Ich stellte fest, dass meine Waschmittelkartonpacktaschen allmählich ihre Form verloren und in sich zusammensanken. Der Grund war anhaltende Feuchtigkeit, die nicht von außen, sondern von innen in sie drang: Vor dem Gewicht der über ihnen lastenden Gepäckstücke hatten die Weincontainer schließlich kapituliert und einen beachtlichen Teil ihres Inhalts in die beiden Koffer ergossen. Schlimm daran war weniger der Verlust des edlen Getränks. Es taugte nach der langen Schüttelei auf übelsten Pisten mittlerweile ohnehin besser ins Sauerkraut als zum Schweinebraten. Aber wohin sollte ich meine Ausrüstung stecken, wenn sich meine Transportbehälter ins Jenseits verabschiedeten? Während sie langsam zu trocknen begannen, machte ich Ausflüge zur Barentssee und zur russischen Grenze, von wo aus es nur noch 212 – damals unüberwindliche - Kilometer bis nach Murmansk waren. Abends diskutierte ich mit zwei Niederländern über die deutsche Wiedervereinigung und musste mich als Phantast bezeichnen lassen, der Wunsch und Realität nicht auseinander halten könne. Die Ereignisse zeigten dann sehr bald, auf wen ihre Beurteilung wirklich zutraf.
Es half nichts: Ich musste 500 km nach Süden fahren, um in der finnischen Provinzhauptstadt Rovaniemi eine Kette zu kaufen. Die Spuren ihrer Montage zierten noch tagelang meine Hände – und wohl auch die des Waschbeckens, in dem ich vergeblich versucht hatte, sie zu reinigen. Da ich weder in Finnland, noch so weit im Süden bleiben wollte, startete ich bald wieder in Richtung Nordwesten. Im schwedischen Kiruna platzte ich in das alljährliche Nordkalottentreffen der skandinavischen Motorradfahrer und staubte den Pokal für die längste Anreise ab. 7.000 km waren eben unschlagbar. Da mich weder Tauziehen noch Dauersaufen sonderlich reizten, entschied ich mich für die Besichtigung des örtlichen Bergwerks. Seines Eisenerzes wegen hatten die Nazis 1940 den Verschiffungshafen Narvik angegriffen und nach heftigen Verlusten eingenommen. Genau dort kam ich einen Tag später an und setzte bei gutem Wetter mit der Fähre auf die Lofoten über. Die Inseln mit ihren pittoresken, aus dem Meer ragenden Spitzkegeln stellten ohne Zweifel den landschaftlichen Höhepunkt der gesamten Nordlandreise dar. Auf dem Zeltplatz von A, hoch oben über dem Meer, schlug ich für zwei Tage mein Quartier auf. Der nächtliche Sturm zerfetzte einige Billigzelte, meines war von Fjällräven und blieb heil.
Am 24. Juli setzte ich von Moskenes auf das Festland über und machte mich entlang der norwegischen Küste auf den Heimweg. Da mein Hinterradreifen schon nach 4.000 km kaum noch Profil aufwies, erstand ich in Trondheim einen neuen und ließ ihn montieren. Kurz darauf leuchtete die Ladekontrolleuchte auf. Ich überprüfte die Kohlen der Lichtmaschine, und griff in meinen Teilevorrat. Wenige Minuten später saß ich schon wieder auf dem Bock. Mit einer Entwicklung konnte ich mich gar nicht anfreunden: Je weiter ich nach Süden vordrang, umso dunkler wurden die Nächte. Ich fand es ausgesprochen lästig, im lichtlosen Zelt mühsam nach der Taschenlampe fummeln zu müssen, bloß weil ich um Mitternacht noch ein bisschen lesen wollte. Bei anhaltendem Regen setzte ich meine Rückfahrt durch das südliche Schweden bis nach Helsingborg fort, um entlang der klassischen Vogelfluglinie wieder nach Deutschland einzureisen. Am 30. Juli 1989, 23 Tage nach meiner Abfahrt, traf ich müde aber glücklich wieder in Tübingen ein. 10.031 km auf teilweise abenteuerlichen Pisten lagen hinter mir.
Fuhrpark: x