Wie gerädert begannen wir unseren zweiten Fahrtag. Die Reise führte über Besancon, Bourg-en-Bresse und Lyon bis ins Rhonetal. Um Geld zu sparen, wählte ich statt der teuren Autobahn lieber die kostenlose Landstraße entlang des Flusses. Das war billiger und schöner, trieb aber den Zeitaufwand in ungeahnte Höhen. Gegen 22 Uhr befanden wir uns immer noch nicht – wie geplant – in Arles, sondern noch weit davon entfernt. Sigrid war am Ende ihrer Kräfte und forderte energisch einen sofortigen Halt. Was sollten wir tun? Der Vollmond schien, und ein abseits der Straße gelegener Steinbruch lud zum illegalen Zeltaufbau geradezu ein. Wir hielten, überlegten kurz – und stiegen wieder auf die MZ. Die Erfahrungen an der Grenze hatten uns doch zu sehr verunsichert.
Fahrtunterbrechung am Nachmittag
[img:2uf2h65v]http://i495.photobucket.com/albums/rr312/Wolf-Ingo/MZ-Forum/1976Agde07A.jpg[/img:2uf2h65v]
[color=#808000:2uf2h65v][i:2uf2h65v]-- Hinzugefügt: 25/11/2010, 16:30 --[/i:2uf2h65v][/color:2uf2h65v]
Als wir gegen elf Uhr schließlich in Arles eintrafen, erlebten wir den nächsten Schock. Weil Stierkampf herrschte, waren nahezu sämtliche Quartiere belegt. Mit Mühe gelang es uns, ein schäbiges Zimmer in einem ungepflegten Haus zu ergattern. Die Matratze des Doppelbettes war derart verschlissen, dass sich sofort ein tiefer Trichter bildete, der die Schläfer gierig aufsog. In der Bettmitte zwangsvereint verbrachten wir trotzdem eine geruhsame Nacht!
Die überfüllte Stadt lockte uns nicht. Wir verließen sie am späten Morgen und tuckerten entlang der Küste nach Westen. Was wir suchten, ist einfach zu beschreiben: Sonne, Strand und unberührte Natur. Was wir fanden, war eine architektonische Ungeheuerlichkeit: La Grande Motte – eine potthässliche Touristenstadt aus der Retorte. Entsetzt flüchteten wir weiter nach Westen.
La Grande Motte – Bild ausnahmsweise nicht von mir.
[img:2uf2h65v]http://i495.photobucket.com/albums/rr312/Wolf-Ingo/MZ-Forum/1976Agde08.jpg[/img:2uf2h65v]
[color=#808000:2uf2h65v][i:2uf2h65v]-- Hinzugefügt: 25/11/2010, 16:32 --[/i:2uf2h65v][/color:2uf2h65v]
Der Campingplatz machte einen sehr verschlafenen Eindruck. Er hieß „Sept Fons“ und lag am östlichen Ortseingang von Agde, einer kleinen Küstenstadt in der Nähe von Beziers. Abseits von Straße und Strand gelegen, wirkte das mit uralten Platanen bestandene Gelände sehr anziehend auf uns. Der ehemalige Gutshof versprach Ruhe und Kontemplation. Genau davon hatten wir geträumt und nahmen Abstriche beim Sanitärkomfort gern in Kauf.
Zeltplatz Agde – Verwaltungsgebäude, aufgenommen 2008. 1976 sah es hier nicht ganz so bunt aus.
[img:2uf2h65v]http://i495.photobucket.com/albums/rr312/Wolf-Ingo/MZ-Forum/1976Agde09.jpg[/img:2uf2h65v]
[color=#808000:2uf2h65v][i:2uf2h65v]-- Hinzugefügt: 25/11/2010, 16:33 --[/i:2uf2h65v][/color:2uf2h65v]
Um ungestört zu sein, wählten wir eine wunderschöne Ecke aus, in der sich kein einziges Zelt befand. Bald wussten wir auch warum. Hinter einer Mauer versteckt lag die stark frequentierte Bahnstrecke von Perpignan nach Marseille. Tagsüber war der Lärm kaum wahrnehmbar. Aber nachts rissen uns die vorbeidonnernden Güterzüge regelmäßig aus dem Schlaf. Wir wogen ab, was uns wichtig war und blieben tapfer an Ort und Stelle.
Es wurde ein Traumurlaub. Acht Tage genossen wir das herrliche Wetter, labten uns an Rotwein, Fromage und Baguette oder schauten den Fledermäusen beim abendlichen Flug um die Laternenpfähle zu. Um Geld zu sparen, gingen wir nur jeden zweiten Abend essen. Bevorzugtes Ziel waren kleine Restaurants in der Altstadt von Agde, die preiswerte und bodenständige Küche boten. Aber auch die heute noch existierende Bar „Le Christina“ suchten wir häufig auf, weil sie nahe am Platz lag und so hieß wie Sigrids ältere Schwester.
Hier zog es uns hin.
[img:2uf2h65v]http://i495.photobucket.com/albums/rr312/Wolf-Ingo/MZ-Forum/1976Agde10.jpg[/img:2uf2h65v]
[color=#808000:2uf2h65v][i:2uf2h65v]-- Hinzugefügt: 25/11/2010, 16:34 --[/i:2uf2h65v][/color:2uf2h65v]
An den übrigen Abenden übernahm es meine Frau, ein leckeres Mahl zu zaubern. Ich bin auch heute noch voller Bewunderung darüber, wie sie dies unter den primitiven Bedingungen stets zuverlässig hinbekam.
Es gibt frischen Thunfisch, Gemüse und Salat
[img:2uf2h65v]http://i495.photobucket.com/albums/rr312/Wolf-Ingo/MZ-Forum/1976Agde11.jpg[/img:2uf2h65v]
[color=#808000:2uf2h65v][i:2uf2h65v]-- Hinzugefügt: 25/11/2010, 16:35 --[/i:2uf2h65v][/color:2uf2h65v]
Den Tag verbrachten wir am Strand von Marseillan, der wochentags nur wenig besucht war. Dort schwammen wir oder beobachteten die Flamingos im nahe gelegenen Etang de Thau, einem landwärts gelegenen Binnensee. Die Ruhe und der große Abstand vom Studienort taten mir gut. In mir reifte der Entschluss, die Geisteswissenschaften an den Nagel zu hängen und künftig der Volkswirtschaft zu frönen, was auch geschah. Ich habe diese Entscheidung nie bereut.
Unschlüssig: Wo hineinspringen?
[img:2uf2h65v]http://i495.photobucket.com/albums/rr312/Wolf-Ingo/MZ-Forum/1976Agde14.jpg[/img:2uf2h65v]
[color=#808000:2uf2h65v][i:2uf2h65v]-- Hinzugefügt: 25/11/2010, 16:37 --[/i:2uf2h65v][/color:2uf2h65v]
Einen absoluten Höhepunkt bildete unser Ausflug nach Carcassonne. Mein Großvater hatte mir einen riesigen Bildband hinterlassen, der ein wundervolles Foto dieser einzigartigen Stadt zeigt. Seitdem wollte ich unbedingt dort hin. Schon von außen bietet die weithin sichtbare Doppelmauer mit ihren Türmen und Toren einen überwältigenden Anblick. Wer sie durchschreitet, gelangt in ein wahrhaft beeindruckendes Labyrinth mittelalterlicher Häuser und Gassen. Staunend stiefelten wir darin herum.
In den Mauern von Carcassonne.
[img:2uf2h65v]http://i495.photobucket.com/albums/rr312/Wolf-Ingo/MZ-Forum/1976Agde11A.jpg[/img:2uf2h65v]
[color=#808000:2uf2h65v][i:2uf2h65v]-- Hinzugefügt: 25/11/2010, 16:38 --[/i:2uf2h65v][/color:2uf2h65v]
Die Reise stand unter einem guten Stern. Wir waren von ihr derart angetan, dass sie uns als Muster für alle künftigen Touren dienen sollte, die wir in den folgenden zwei Jahrzehnten unternahmen. Sogar die MZ zeigte sich gnädig und machte keinerlei Mucken. Völlig anders verhielt sich die Ducati eines niederländischen Pärchens, das Wagner liebte und neben uns Quartier bezog. Dort wurde ständig an dem 350er Einzylinder herumgeschraubt. Natürlich freundeten wir uns im Laufe der Tage an – und durften am Ende doppelten Abschied feiern, weil die Ducati am vorgesehenen Abreisetag andere Pläne hatte.
Abschied
[img:2uf2h65v]http://i495.photobucket.com/albums/rr312/Wolf-Ingo/MZ-Forum/1976Agde12.jpg[/img:2uf2h65v]
[color=#808000:2uf2h65v][i:2uf2h65v]-- Hinzugefügt: 25/11/2010, 16:41 --[/i:2uf2h65v][/color:2uf2h65v]
Ende Juni mussten auch wir der harten Tatsache ins Auge blicken, dass selbst der schönste Urlaub einmal zu Ende geht. An einem heißen Samstagvormittag sattelten wir die MZ und verließen bedauernd den Ort des Geschehens. Um Zeit zu sparen, ging es direkt auf die nahe gelegene Autobahn. Der schöne Plan ging leider gründlich schief: Wir kamen im Rhonetal einfach nicht mehr in den vierten Gang, weil plötzlich die Leistung fehlte. Vollkommen ratlos beließ ich es bei Gang Nummer drei und 85 Knoten Dauertempo. Auf einem Parkplatz suchte ich dann intensiv nach entlaufenen Pferden und prüfte auch die Bremsen. Auffälligkeiten waren jedoch nicht zu vermerken. Erst als wir das Rhonetal wieder verließen, wurde mir klar, wer unsere Fahrt so nachhaltig behindert hatte: Es war der Mistral, ein stetig wehender Starkwind aus dem Norden.
Die langsame Fahrt durchkreuzte unsere Pläne: Erst gegen 22 Uhr konnten wir Lyon hinter uns lassen und fanden danach weder ein Restaurant noch ein Hotel, das uns aufnehmen wollte. Ob wirklich alle belegt waren oder man einfach keine Lust hatte, einen langhaarigen Boche zu bewirten, wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben. Hinter Lons-le-Saunier gaben wir auf und schmissen das Zelt entnervt auf einen Acker neben der Route Nationale. Hungrig schliefen wir ein und wachten erfrischt wieder auf. Am Abend hatte uns die Weltstadt Tübingen wieder. Über 3.000 km lagen hinter uns - und ein toller Urlaub.
Einfahrt mit der MZ in unseren Hof (1978)
[img:2uf2h65v]http://i495.photobucket.com/albums/rr312/Wolf-Ingo/MZ-Forum/1976Agde13.jpg[/img:2uf2h65v]
[color=#808000:2uf2h65v][i:2uf2h65v]-- Hinzugefügt: 25/11/2010, 16:42 --[/i:2uf2h65v][/color:2uf2h65v]
http://maps.google.de/maps?f=d&source=s ... 040527&z=6[color=#808000:2uf2h65v][i:2uf2h65v]-- Hinzugefügt: 25/11/2010, 16:46 --[/i:2uf2h65v][/color:2uf2h65v]
So, liebe Leute, das war es erst einmal. In zwei, drei Wochen geht es weiter mit dem gelben Monster und einer noch längeren Reise. Sorry, dass ich nicht ausschließlich Fotos der Siebziger verwenden konnte, sondern gelegentlich auch mal ein moderneres einfügen musste, weil ich damals nicht unmäßig viel fotografierte. Die Menge hält sich aber wohl in erträglichen Grenzen.
Freundliche Grüße
Wolf-Ingo