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Victoria aus den 20er Jahren

BeitragVerfasst: 2. Januar 2008 20:36
von Ex-User J.F.S.
Victoria

Kürzlich erhielt ich die Reproduktion eines Fotos, das meinen Großvater auf seinem
Motorrad, einer 500er Victoria mit quer eingebautem Boxermotor zeigt. Die Aufnahme ist
zwar nicht datiert, dürfte aber Ende der zwanziger Jahre entstanden sein. Zugelassen
war die Maschine in Westerstede, zum damaligen Großherzogtum Oldenburg gehörend
(Kennzeichen OI).

Bild

Überliefert ist die folgende Anekdote aus der damaligen Zeit:

Mein Großvater bewegte seine Victoria nicht gerade langsam durch die Lande, wobei
damals Anfang der dreißiger Jahre in Ortschaften das Maximaltempo von 25 km/h galt.
In Westerstede, seinem Wohnort, sprang plötzlich der Polizist des Ortes hinter einem
Lagerschuppen hervor und hielt ihn an. Mit gestrenger Amtsmiene teilte er meinem
Großvater mit, er sei 28 km/h gefahren, ermittelt durch eine Stoppuhrmessung! Dieses
Vergehen wurde an Ort und Stelle pro überschrittenem Kilometer mit einer Reichsmark
Strafe geahndet, Einspruch zwecklos.

Wenn man bedenkt, dass damals ein Arbeiter etwa vier Reichsmark pro Tag (!)
verdiente, so kann man die damaligen Tarife nur als reichlich gesalzen bezeichnen.

Von meinen Großvater habe ich hinsichtlich der Technik dieses Motorrades noch die
Anmerkung im Gedächtnis, dass der hintere Zylinder zum Überhitzen neigte, da er
kaum im Fahrtwind lag.

Nach meinen ersten Nachforschungen handelte es sich vermutlich um eine KR III, da
sie bereits einen Kettenantrieb aufwies. Merkwürdig erschien mir nur, dass diese
Maschine mit der Leistung von 12 PS bei 3.600 U/min und einer Höchstgeschwindigkeit
von etwa 100 km/h keine Trommelbremse im Vorderrad besaß.

Weitere Aufschlüsse zur Technik dieses historischen Motorrades brachte die Auskunft
eines Victoria-Experten:

Das Motorrad meines Großvaters war tatsächlich eine Victoria KR III in der damaligen
Serienausführung ohne Vorderradbremse. Die Scheibe im Vorderrad war der für die
damalige Zeit übliche Tachoantrieb mittels eines Nähmaschinenriemens auf eine
kleinere Riemenscheibe mit Umlenkung auf die Tachowelle, welche auf diesem Bild
nicht zu sehen ist. Die Tachoanlage gab es damals nur als Sonderzubehör an jedem
Motorrad. Das Gestell auf der Gepäckbrücke war tatsächlich der Soziussitz, original von
Victoria. Die Hinterradbremse war im Kettenrad als Trommelbremse integriert. Als zweite
Bremse diente eine Bandbremse an der Kupplungsscheibe rechts hinter dem Motor.
Gebaut wurde die Maschine 1925 oder 1926. Die Lenkerarmaturen deuten darauf hin.
Die Beleuchtung (Trommelscheinwerfer) sowie das elektrische Horn sind definitiv später
(ab 1928) angebaut worden. Das Modell KR III wurde damals als einziges Modell von
Victoria in verschiedenen Ausführungen von Mitte 1924 bis Anfang 1928 angeboten.
Das Gewicht gab der Hersteller ohne Sonderzubehör mit 110 kg (trocken) an.

Das Motorradfahren muß mit dieser Technik und auf den damaligen Straßen noch ein
wirkliches Abenteuer gewesen sein!

Gruß, Jürgen

BeitragVerfasst: 2. Januar 2008 21:38
von Ex User Martin
8) Klasse Geschichte!Bitte mehr davon

Was wurde aus der Victoria?

BeitragVerfasst: 2. Januar 2008 21:51
von Falk
höchst interessant

BeitragVerfasst: 2. Januar 2008 23:42
von Menni
Schöner Beitrag Jürgen. Eine Vorkriegsmaschine täte mich auch noch interessieren. Mal sehen ob da mal was günstiges gibt. Dann braucht man wohl auch noch ne Drehmaschine dazu. :)

BeitragVerfasst: 3. Januar 2008 16:39
von Ex User Martin
Ja das ist Fahren pur nur möcht ich nicht wissen was Ersatzteile für solche seltenen Vorkriegsmaschinen kosten.....BMW mal ausgelassen!

BeitragVerfasst: 3. Januar 2008 22:54
von andreEs175-0
ich war letzes Jahr bei nen Kunden...der hatte auch einige ES da stehen...und so eine Victoria...bis dahin kannte ich die gar nicht... übrigens fahrbereit und sehr guter Zustand... ;)

BeitragVerfasst: 8. Januar 2008 18:58
von Ex-User J.F.S.
Martin hat geschrieben:Was wurde aus der Victoria?


Es war der ganz normale Lauf der Dinge. Im Jahre 1930
gründete mein Großvater einen kleinen Handwerksbetrieb.
Da die anfallenden Materialtransportaufgaben mit einem
Motorrad oder Gespann nicht zu bewältigen waren, verkaufte
er die Victoria und schaffte einen Dreiradlieferwagen (Typ
leider nicht bekannt) an, wie ihn damals viele Handwerks-
betriebe in Gebrauch hatten.


Menni hat geschrieben: Eine Vorkriegsmaschine täte mich auch noch interessieren. Mal sehen ob es da mal was günstiges gibt. Dann braucht man wohl auch noch ne Drehmaschine dazu. :)


Mindestens! :) :)

Bei den Vorkriegs- und auch manchen frühen Nachkriegsmaschinen
sollte man sich vorher unbedingt erkundigen, ob die für heutige
Verhältnisse oft recht ungewöhnlichen Reifengrößen noch erhältlich
sind.

Gruß, Jürgen