Kürzlich erhielt ich die Reproduktion eines Fotos, das meinen Großvater auf seinem
Motorrad, einer 500er Victoria mit quer eingebautem Boxermotor zeigt. Die Aufnahme ist
zwar nicht datiert, dürfte aber Ende der zwanziger Jahre entstanden sein. Zugelassen
war die Maschine in Westerstede, zum damaligen Großherzogtum Oldenburg gehörend
(Kennzeichen OI).

Überliefert ist die folgende Anekdote aus der damaligen Zeit:
Mein Großvater bewegte seine Victoria nicht gerade langsam durch die Lande, wobei
damals Anfang der dreißiger Jahre in Ortschaften das Maximaltempo von 25 km/h galt.
In Westerstede, seinem Wohnort, sprang plötzlich der Polizist des Ortes hinter einem
Lagerschuppen hervor und hielt ihn an. Mit gestrenger Amtsmiene teilte er meinem
Großvater mit, er sei 28 km/h gefahren, ermittelt durch eine Stoppuhrmessung! Dieses
Vergehen wurde an Ort und Stelle pro überschrittenem Kilometer mit einer Reichsmark
Strafe geahndet, Einspruch zwecklos.
Wenn man bedenkt, dass damals ein Arbeiter etwa vier Reichsmark pro Tag (!)
verdiente, so kann man die damaligen Tarife nur als reichlich gesalzen bezeichnen.
Von meinen Großvater habe ich hinsichtlich der Technik dieses Motorrades noch die
Anmerkung im Gedächtnis, dass der hintere Zylinder zum Überhitzen neigte, da er
kaum im Fahrtwind lag.
Nach meinen ersten Nachforschungen handelte es sich vermutlich um eine KR III, da
sie bereits einen Kettenantrieb aufwies. Merkwürdig erschien mir nur, dass diese
Maschine mit der Leistung von 12 PS bei 3.600 U/min und einer Höchstgeschwindigkeit
von etwa 100 km/h keine Trommelbremse im Vorderrad besaß.
Weitere Aufschlüsse zur Technik dieses historischen Motorrades brachte die Auskunft
eines Victoria-Experten:
Das Motorrad meines Großvaters war tatsächlich eine Victoria KR III in der damaligen
Serienausführung ohne Vorderradbremse. Die Scheibe im Vorderrad war der für die
damalige Zeit übliche Tachoantrieb mittels eines Nähmaschinenriemens auf eine
kleinere Riemenscheibe mit Umlenkung auf die Tachowelle, welche auf diesem Bild
nicht zu sehen ist. Die Tachoanlage gab es damals nur als Sonderzubehör an jedem
Motorrad. Das Gestell auf der Gepäckbrücke war tatsächlich der Soziussitz, original von
Victoria. Die Hinterradbremse war im Kettenrad als Trommelbremse integriert. Als zweite
Bremse diente eine Bandbremse an der Kupplungsscheibe rechts hinter dem Motor.
Gebaut wurde die Maschine 1925 oder 1926. Die Lenkerarmaturen deuten darauf hin.
Die Beleuchtung (Trommelscheinwerfer) sowie das elektrische Horn sind definitiv später
(ab 1928) angebaut worden. Das Modell KR III wurde damals als einziges Modell von
Victoria in verschiedenen Ausführungen von Mitte 1924 bis Anfang 1928 angeboten.
Das Gewicht gab der Hersteller ohne Sonderzubehör mit 110 kg (trocken) an.
Das Motorradfahren muß mit dieser Technik und auf den damaligen Straßen noch ein
wirkliches Abenteuer gewesen sein!
Gruß, Jürgen