von Munin » 12. Oktober 2023 08:33
Gut, ich hatte nun auch mal in meine originalen Erstazteillisten für die ES 300 geschaut (Ausgabe 12/61 und 8/72).
Dort sind alle entsprechenden Übermaßkolben gelistet. Der größte werkseitig angebotene Kolben bzw.Kolbenringe haben ein Maß von 73,75 mm, was dann einer Bohrung von 73,81 mm (Einbauspiel 0,06 mm) bzw. beim Erreichen der maximalen Verschleißgrenze dann 74,05 mm entsprechen würde (0,4 mm Spiel). Da sind wir bereits weit jenseits von zulässigen Fertigungstoleranzen.
Damit wäre das die größte zulässige Bohrung der 300er ES. Um damit also die eingehende Frage nochmals zu beantworten: Was ist das letzte Maß der 300er? Es ist 73,81 mm! Alles andere erfolgte außerhalb der Werksgarantien.
Da es in der DDR auch um Gewährleitung, aber eben gerade nicht um Profit ging, sondern aufgrund von Ressourcenschonung und ständigem Material- und Energiemangel die Bauteile so lange wie möglich halten mussten bzw. regeneriert wurden, bis es einfach nicht mehr ging, hat man sich schon etwas bei den maximal zulässigen Schleifmaßen gedacht. Das man dann in Eigeninitiative dennoch weiter ausgeschliffen hat, ist einzig der Tatschae geschuldet, dass akuter Mangel an Neuteilen herrschte. Jeder der eine ES 300 hat, weiß, dass die Laufbuchse im Zylinder recht dünn gehalten ist, da es sich hier um den MM175/250 handelt, welcher eben schon auf 300cm³ vergrößert wurde. Besonders im unteren Teil der Laufbauche mit dem Überstömfenster ist auch bei der 72er Bohrung das Ganze schon recht fragil. Schleift man hier also massiv weiter aus, ist es völlig unerheblich wie gut die Schmierung ist, denn es geht schlicht und ergreifend darum, dass sich die sehr dünne Laufbuchse aufgrund der unterschiedlichen thermischen Bedingungen nun unzulässig stark verformen kann, oder gar reißt. Die 300er ist bekannt dafür, dass die auch im ersten Schleifmaß schon thermisch recht empfindlich war und Motorschäden häufig auftraten. Das war unter anderem ein Grund für die schnelle Einstellung der Inlandsproduktion nach nicht einmal 2 Jahren, bereits im Februar 1964. Auch deshalb haben heute viele ES 300 einen MM250/1 oder /2 verbaut und originale ES 300 Motoren und Zylinder sind daher entsprechend selten und teuer, da diese häufig schon in den 60er Jahren gegen das thermisch stabilere 175er oder 250er Aggregat getauscht wurden.
318 cm³ als 350er zu verkaufen wäre völlig legitim und kein übermäßiges Aufrunden, sondern gängige Praxis. Immerhin hat z.B. der Simson SR 80 auch nur 69,9 cm³ was fast 13% mehr Hubraum gegenüber der tatschlichen Motorgröße bedeuten. Bei einer "ES 350" mit 75er Bohtrung sind es dagegen nur 9% mehr Hubraum. Ein extrems Beispiel wäre hier auch die MZ GT 500, diese hat z.B. auch "nur" 365 cm³. Die Liste an derartigen Beispielen ließe sich noch beliebig verlängen.
Beste Grüße
Georg
Fuhrpark: RT 125/1 (Bj.54), RT 125/1 (Bj.55), BK 350 (Bj.56)+Stoye SM (Bj.56), IWL Berlin (Bj.59),
ES 250 (Bj.60, BRD Export), ES 300 (Bj.62)+Stoye EL-ES (Bj.62), ES 250/1 (Bj.65, zerlegt), 4x ES 150 (Bj.63, 63, 67, 68), ES 250/2 (Bj.67), ETS 250 (Bj.69), ETS 150 (Bj.71, BRD Export),
TS 150 (Bj.74), TS 250 (Bj.75), ETZ 250 (Bj.82, BRD Export)
Ansonsten: diverse Vorkriegs DKWs, AWO 425 S (Bj.56) & die komplette Vogelserie v. Simson +S50/S51