12. Tag: Nachts hat Regen eingesetzt, der auch fast den ganzen Tag über anhält. In den Regenpausen frühstücke ich vor dem Zelt, gehe Einkaufen oder erledige anstehende Wartungsarbeiten. Ansonsten stehen Duschen und SPIEGEL-Lesen auf dem Programm. Die MZ hat Pause. Abends bemerke ich bekümmert, dass meine angejahrte Isomatte undicht geworden ist. Ich darf jetzt jeden Tag ein Blaskonzert geben. Außerdem ist meine MZ-Schirmmütze weg. Es scheint ein Urlaub der Verluste und Ausfälle zu werden. Nur Lenin bleibt standhaft.
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[color=#808000:3n1otoi8][i:3n1otoi8]-- Hinzugefügt: 15/6/2010, 11:05 --[/i:3n1otoi8][/color:3n1otoi8]
13. Tag: Morgens scheint die Sonne, aber mit 8 Grad Außentemperatur ist es reichlich kühl. Um die Mittagszeit besteige ich die ETZ und versuche mein Glück nochmals in Cuellar, wo ich die Kirchenführung nur um Sekunden verpasse. Die Eingangstür schlägt mir praktisch vor der Nase zu. Wenigstens das Castillo von Iscar ist heute zu besichtigen. Während ich auf steilen Treppen und hohen Mauern herumkraxele, tun mir die Angreifer von damals leid. Schwindelnde Höhen und allgegenwärtige Schießscharten hätten die Erstürmung der Burg zum Selbstmordkommando werden lassen. Der Besichtigung folgt ein ca. 200 km langer Rundkurs zum Nationalpark Hoces del Rio und nach Sepulveda. Ich genieße es sehr, endlich wieder Kurven fahren zu können. Lenin ist in seinem Element. Die Straßen sind leider so holprig, dass ich das Vorhängeschloss meines Topcases verliere.
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[color=#808000:3n1otoi8][i:3n1otoi8]-- Hinzugefügt: 15/6/2010, 11:07 --[/i:3n1otoi8][/color:3n1otoi8]
Auf den Zeltplatz zurückgekehrt muss ich bekümmert feststellen, dass Samstag ist. So leer die spanischen Plätze an Wochentagen auch sein mögen, am Wochenende boxt dort der Papst. Großfamilien beziehen ihre Zelte und Wohnwagen, riesige Fernseher werden ins Freie geschleppt und Empfangsantennen unter Lebensgefahr in die Kronen der höchsten Bäume verschleppt. Ich höre den European Song Contest brüllend laut, und als wäre das noch nicht genug, kapert eine Armada von 10 bis 12jährigen Wandervöglern den Platz. Sie machen einen höllischen Radau. Selbst um ein Uhr nachts toben die entfesselten Infanten noch ungehindert in der Gegend herum. Ich beginne Herodes in einem milderen Licht zu sehen. Linderung verschaffen Ohrhörer und Radio Classica, obwohl Schönberg sonst gar nicht mein Fall ist.
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[color=#808000:3n1otoi8][i:3n1otoi8]-- Hinzugefügt: 15/6/2010, 11:13 --[/i:3n1otoi8][/color:3n1otoi8]
14. Tag: Die Vögel werden jeden Morgen zutraulicher. Ich vermute einen Zusammenhang zwischen ihrem Verhalten und der wachsenden Zahl von Federn auf meiner Kleidung. Der Daunenschlafsack lässt grüßen. Heute heißt es Abschied nehmen. Da die Gemahlin schlechtes Wetter für Frankreich verkündet, denke ich darüber nach, meinen Standort ins südliche Spanien zu verlegen. Ein Blick auf den bereits 3.600 km gelaufenen Hinterradreifen lässt mich davon Abstand nehmen. Das Profil des 4.10ers reicht dazu wohl nicht mehr aus. Ich entscheide mich, der Wetterprognose zum Trotz, nach Frankreich zu fahren.
Bei herrlichem Wetter geht es um 11 Uhr los. Ich genieße die leeren und gut ausgebauten Straßen im spanischen Binnenland. Die Route führt mich von Penafiel über Aranda, Burgo, Berlanga, Almazan und Monteaguado in die Ebro-Ebene. Da Lenin stetigen Rückenwind verspürt, legt er los wie ein Weltmeister. Vollbepackt und hochbeladen düst er selbst lange Steigungen mit 125 kmh hoch und beschleunigt sogar noch spürbar, wenn ich mich klein mache und den Gasgriff voll aufdrehe. Wie gut, dass spanische Radarfallen Seltenheitswert genießen. Teuer wird es trotzdem, denn Lenin verlangt wieder einmal mehr als 7 Liter Superbenzin – plus Zweitaktöl, versteht sich.
In der Ebro-Ebene ist es heiß und stickig, der Wind kommt jetzt häufig von der Seite. Die Gegend bietet nichts Reizvolles. Um sie rasch zu verlassen, benutze ich bis Zaragoza ein etwa 75 km langes Autobahnstück, um dann auf der Nationalstraße bis Lleida weiterzufahren. Von dort aus führt mich der Weg über Balaguer, Artesa, Seu und Puigcerda wieder in die Pyrenäen. Als ich das Zelt schließlich in Casteil aufschlage, einem Gebirgsort etwa 50 km westlich von Perpignan, liegt eine Tagesetappe von 750 km hinter mir, davon 90 Prozent auf Landstraßen. Lenin hat sie in 9 Stunden bewältigt – eine Mittagspause und drei Tankstopps mit eingerechnet. Nicht schlecht für eine MZ.
(unten: Lenin am Castillo von Iscar)
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[color=#808000:3n1otoi8][i:3n1otoi8]-- Hinzugefügt: 15/6/2010, 11:15 --[/i:3n1otoi8][/color:3n1otoi8]
15. Tag: Der Platz von Casteil ist herrlich. Mitten im Bergwald gelegen, vermittelt er einem den Eindruck, völlig allein zu campen – zumindest dann, wenn man in der Nebensaison kommt und den obersten Stellplatz kapert. Mir ist das wieder einmal gelungen. Ich beschließe ausgiebig zu frühstücken, zu faulenzen und den Platz zu genießen. Der Himmel ist bewölkt, aber es bleibt trocken. Am Abend verkündet das Kurzwellenradio, Bundespräsident Köhler sei zurückgetreten. Ich verspüre Bedauern.
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http://www.domainestmartin.com/[color=#808000:3n1otoi8][i:3n1otoi8]-- Hinzugefügt: 15/6/2010, 11:17 --[/i:3n1otoi8][/color:3n1otoi8]
16. Tag: Heute geht es in den örtlichen Tierpark. Bereits gestern habe ich Fressalien für die Viecher eingekauft: Äpfel, Möhren, Knollensellerie, Bananen und Mais. Um meinen prall gefüllten Einkaufsbeutel an der Kasse vorbei zu schmuggeln, muss ich die schwere Motorradjacke als Tarnung darüber hängen. Da der gebirgige Rundkurs etwa 5 km lang ist, habe ich einiges zu schleppen. Gott sei dank bleibt das Wetter trocken und kühl.
Nur langsam wird der Futterbeutel leer: Mais mögen alle, Äpfel vor allem die Geisen, Bananen der Affe, Knollensellerie und Möhren bleiben Ladenhüter. Eine Mutprobe stellt die Aufgabe dar, dem mannshohen Emu das Mais auf der flachen Hand zu überreichen. Ich überwinde mich und kann erfreut feststellen, dass das Vieh nicht aggressiv ist. Ach ja, dem Löwen habe ich ein Putenschnitzel serviert – allerdings nicht auf der flachen Hand.
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17. Tag: Der Morgen begrüßt mich mit ausgesprochen schönem Wetter. Heute stehen zwei Höhepunkte auf der Tagesordnung: die Besichtigung der Festung Salses und das abendliche Essen im wiedereröffneten Platzrestaurant von Casteil. Salses wurde zwischen 1497 und 1504 von den Spaniern zur Verteidigung des Roussillons gebaut und gilt als beispielgebendes Militärbauwerk, an dem sich die Entwicklung von der mittelalterlichen Burg hin zur modernen Festung ablesen lässt. Die Führung enttäuscht mich jedoch. Vor 23 Jahren war ich mit meiner Frau schon einmal hier. Damals konnte man den Bergfried und sein einzigartiges Verteidigungssystem viel eingehender unter die Lupe nehmen.
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[color=#808000:3n1otoi8][i:3n1otoi8]-- Hinzugefügt: 15/6/2010, 11:21 --[/i:3n1otoi8][/color:3n1otoi8]
Dem Vergnügen folgt die Pflicht. In Perpignan arbeite ich einen detaillierten Einkaufszettel meiner Gemahlin ab. Da der Supermarkt seit unserem letzten Besuch im Herbst 2009 umgeräumt und Produkte ausgelistet hat, dauert die Angelegenheit deutlich länger als geplant. Entschädigt werde ich im Platzrestaurant. Dessen Köchin reist jedes Jahr im Juni aus den Niederlanden an und verwöhnt die Gäste bis Anfang September mit ausgesprochenen Köstlichkeiten. Da die gute Frau ihr Metier von der Pike auf gelernt hat, hebt sich das Servierte wohltuend von den üblichen Touristenmenüs a la „Steak & Frites“ ab. Mir schmeckt der Fisch so gut, dass ich ihr einen Wein spendiere und im Lokal einen Toast auf sie ausbringe. Die gute Frau ist sichtlich gerührt.
(unten: die vom französischen Festungsbaumeister Vauban im 17. Jahrhundert befestigte Stadt Villefranche, ganz in der Näge meines Zeltplatzes)
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[color=#808000:3n1otoi8][i:3n1otoi8]-- Hinzugefügt: 15/6/2010, 11:22 --[/i:3n1otoi8][/color:3n1otoi8]
18. Tag: Gemahlin und Wetter in Deutschland erlauben mir einen weiteren sonnigen und warmen Tag auf diesem herrlichen Platz. Ich nutze ihn zum Faulenzen und Souvenir kaufen. Am frühen Abend gibt der Platzwirt einen Empfang. Er hat einen internationalen Preis bekommen. Ich finde, er hat ihn verdient.
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[color=#808000:3n1otoi8][i:3n1otoi8]-- Hinzugefügt: 15/6/2010, 11:25 --[/i:3n1otoi8][/color:3n1otoi8]
19. Tag: Ich packe und fahre um halb elf los. Der Tag ist heiß und sonnig. Zum Abschied gelingt mir ein Foto von Seltenheitswert: der wolkenlose Gipfel des Canigou. Da Lenin und ich keine Autobahn mögen, wählen wir eine Route quer durch das Zentralmassiv zum wohlbekannten Platz von Crest. Sie führt uns zunächst durch die Corbieres und dann quer durch das Audetal, etwa entlang der Strecke Ille, Belesta, Estagel, Tuchan, Durban, Thezan, Lezignan und St. Pons. Von dort aus nehmen wir das Zentralmassiv unter die Räder. Unser Weg führt durch die Orte Olargues, Bedarieux, Lunas, Lodeve, Ganges, St. Hyppolyte, Ales, Aubenas und Privas.
Unterwegs verblüfft Lenin eine Gruppe von Boxerfahrern, weil er scheinbar mühelos mit ihnen mithalten kann. Ich bekomme anerkennende Kommentare zu hören und muss an der Ampel ganz nach vorne fahren, damit alle seinen schönen Körper bewundern können. Weniger angenehm in Erinnerung bleibt mir eine andere Begegnung. Irgendwo im Zentralmassiv kommt mir auf enger und kurviger Strecke ein rasender Motorradfahrer in extremer Schräglage entgegen. Da er trotz Gegenverkehr mehrere PKWs überholt, fehlt mir ohnehin bereits die Hälfte der eigenen Fahrbahn. Den Rest versperrt der Depp, indem er mich mit weit ausgeholter Hand begrüßt. Leute gibt’s…
Gegen 20 Uhr laufen Lenin und ich in Crest ein. Ich nehme eine Hütte und stürze mich wie ein hungriger Wolf auf die Spaghetti des Platzrestaurants. Beim abendlichen Weinabsacker komme ich mit einer Motorradfahrergruppe aus Balingen ins Gespräch. Und siehe da: Sie kennen Hans, haben aber keine Ahnung, dass er MZ fährt.
(im Hintergrund: Städtchen Ille im Tet-Tal, Canigou)
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[color=#808000:3n1otoi8][i:3n1otoi8]-- Hinzugefügt: 15/6/2010, 11:29 --[/i:3n1otoi8][/color:3n1otoi8]
20. Tag: Nach dem Schmieren und Spannen der Kette komme ich gegen 10.30 Uhr in Crest los. Ich wähle die Autobahn bis Lyon, um dann auf der Nationalstraße bis Besancon weiterzufahren. Ich stehe an einer Ampel in Lons le Saunier, als ein altes Guzzi-Gespann von hinten herantuckert. Der Fahrer und seine Sozia sind völlig aus dem Häuschen, als sie Lenins ansichtig werden. Sie rufen und winken wie verrückt, doch kann ich leider kein Wort verstehen. Auf der Autobahn nach Mulhouse hat Lenin dann schon seinen nächsten großen Auftritt. Ich gebe ihm derart die Sporen, dass mir der Fahrer einer alten R 100 an der Mautstation zu verstehen gibt: „Die läuft aber gut!“
Am frühen Abend habe ich Freiburg erreicht und nehme nun - quer über den Schwarzwald – Kurs auf Balingen. Hans und Margit nehmen mich freundlich auf und gewähren mir Kost und Quartier für die Nacht. Den Abend verbringen wir mit einem Arbeitskollegen von Hans und dessen Frau. Es sind sehr anregende Gespräche, die uns bis weit nach Mitternacht auf den Beinen halten.
(unten: Auf dem Motocampingplatz nahe Crest haben Hans und ich schon auf der Hinfahrt in einer Hütte übernachtet. Im Bild die beiden Emmen und der Verfasser)
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http://www.lecampingmoto.com/[color=#808000:3n1otoi8][i:3n1otoi8]-- Hinzugefügt: 15/6/2010, 11:31 --[/i:3n1otoi8][/color:3n1otoi8]
21. Tag: Unter dräuenden Gewitterwolken fahren Lenin und ich am Nachmittag in Richtung Coburg. Auf der Autobahn hole ich nochmals alles aus ihm heraus, was geht. Die gesamte lange Steigung der A 81 aus dem Jagsttal heraus nimmt der voll beladene Zweitakter mit etwa 130 kmh (Fahrradtacho!). Der Motor jubelt dabei im fünften Gang mit etwa 5.500 Umdrehungen. Nur eins darf uns jetzt nicht unterkommen: Ein Langsamfahrer, der die Drehzahl auf unter 4.500 absacken lässt. Dann wären bis zum Ende der Steigung womöglich nur noch 97 kmh angesagt. Zum Glück bleibt die Bahn ganz frei. In Würzburg zahle ich willig die Verbrauchs-Zeche für meine zügellose Gashand: 7,7 Liter auf 100 km sind der Spitzenwert in diesem Urlaub.
Um 16 Uhr kann ich meine Frau nach drei Wochen Abwesenheit endlich wieder in die Arme schließen. Wir sind beide sehr erleichtert, dass die 6.200 km lange Reise unfallfrei und ohne Pannen verlief. Ein bisschen stolz bin ich darauf auch. Schließlich habe ich das Motorrad vor drei Jahren bis zur letzten Schraube zerlegt und anschließend restauriert. Das gilt übrigens auch für den Motor. Lenin scheint die Spritmassen wirklich zu brauchen. Eine Inspektion nach der Reise ergab: Seine Zündkerze war nahezu frei von Rückständen, und dort, wo sich kleinere Mengen befanden, hatten sie eine helle, fast gelbe Farbe. Dann soll er halt saufen, der Bock. Ich lebe ja auch nicht abstinent!
(unten: Lenin und der Verfasser nach der Rückkehr von ihrem 6.200 km langen Trip durch Frankreich und Spanien)
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Das wars Leute!
Gruß
Wolf-Ingo